Vor zwei Wochen habe ich zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres mein ganzes Leben zusammengepackt, einiges an Ballast aus diesem aussortiert und verschenkt, um es am Ende säuberlich verstaut in zwei Koffern zum Flughafen zu schleppen. Es blieb wenig und doch viel übrig: die Klamotten, die für den schottischen Winter, Sommer und jegliche Wetterlagen dazwischen nötig waren, ein paar Souvenirs, zwei Paar Schuhe und Wanderstiefel. Am Ende waren die Wände meines Zimmers wieder leer und der Zeitpunkt gekommen, an dem Glasgow ohne mich klarkommen musste, oder vielmehr: ich ohne Glasgow.
Das Klischee des Erasmus-Jahrs als „die beste Zeit deines Lebens“, mich hatte es erstaunlicherweise in der Vorbereitung nicht sehr beschäftigt. Zu tief saß noch die Unsicherheit aus den letzten Jahren, nicht mit Sicherheit Zukunftspläne haben zu können, zu oft kamen neue Virusvarianten oder hohe Inzidenzen dazwischen. Nach drei Corona-Semestern war ich froh, überhaupt mal rauszukommen, tatsächlich neue Leute zu treffen (wie geht nochmal Smalltalk?) und etwas anderes zu sehen als mein WG-Zimmer oder die Mainzer Uni-Bibliothek. Woanders zu sein, in einer Stadt, in der ich niemanden kannte, ein Neuanfang in jeder Hinsicht. Aus ursprünglich nur einem geplanten Semester wurden zehn Monate, aus einer fremden Stadt wurde eine zweite Heimat. Nun war es vor knapp zwei Wochen Zeit zu gehen und damit auch Zeit, Bilanz zu ziehen.
Das Privileg, dieses Jahr überhaupt im Ausland verbringen zu können, war mir bewusst – dachte ich. Doch erst währenddessen ist mir wirklich klar geworden, was für eine riesige Chance ein Erasmussemester/-jahr samt finanzieller Unterstützung des Erasmus-Stipendiums bietet. Ohne Ersparnisse und andere Unterstützung reicht ein Erasmus-Stipendium allerdings noch lange nicht aus, um einen Auslandsaufenthalt zu finanzieren. Auch wenn Großbritannien in die Kategorie der Länder mit der höchsten finanziellen Unterstützung fällt, reichte mein Erasmus-Geld gerade mal für knapp 70 Prozent meiner Miete – andere Lebenskosten, der ein oder andere Abend im Pub oder auch Tagestrips, um das Land, in dem man für eine Weile lebt, besser kennenzulernen, waren davon längst noch nicht bezahlt. All das muss man sich durchaus leisten können. Zwar liegt die Erstauswahl der Länder (und deren Preisniveau) zuerst einmal bei einem selbst und Alternativen wie Auslands-Bafög gibt es auch, dennoch wird oft suggeriert, mit einem Erasmus-Stipendium habe man für eine Auslandserfahrung gut ausgesorgt. Von Möglichkeiten wie dem Zuschuss für eine klimabewusste Anreise erfuhr ich erst nach meiner Abreise – mit dem Flugzeug, Bahn-Tickets wären fast doppelt so teuer gewesen. Zum kommenden Wintersemester werden die Beiträge für alle Länder deutlich erhöht, auch eine zusätzliche Förderung für Erstakademiker*innen wird eingeführt. Dennoch bleibt Erasmus ein Privileg, welches nicht jede*r sich leisten kann.
Aber natürlich lag die größte Bereicherung nicht im Erasmus-Beitrag, sondern – Achtung Klischee – im kulturellen Austausch. In einem fremden Land zu leben, aus eigener Erfahrung dessen Bräuche und Traditionen kennenzulernen, sowie die Probleme und politischen Spannungen, ist mit keiner Unterrichtsstunde zu vergleichen. Ich habe gelernt, dass Kilts nicht nur Stereotyp sind, sondern auch gerne mal beim Sonntagsspaziergang oder im Supermarkt getragen werden, dass traditionelle schottische Musik auch auf Partys gespielt wird und dass ein richtiges Ceilidh, eine Tanzveranstaltung ähnlich einem Line-Dance, nicht ohne blaue Flecken auskommt. Mit derart tanzfreudigen Schott*innen habe ich ebenso wenig gerechnet wie mit der enormen Universitätskultur, die den Alltag im Studium maßgeblich bestimmt. Kein Tag verging ohne eine Veranstaltung, einen Workshop oder ein Treffen (Social genannt), welche von einer der über 350 Hochschulgruppen, Societies oder Clubs genannt, organisiert wurden. Von jeglichen Sportarten wie Kanu-Polo, Fallschirmspringen oder Shinty, eine Art brutaleres Hockey aus den Highlands, über die Shakespeare Society, Beekeeping und einer Big Band bis hin zu einer Gin- und einer Taylor Swift-Society konnte man jegliches Hobby oder Interesse nicht nur ausleben, sondern auch ähnlich gesinnte Menschen kennenlernen, was den Start ins Unileben enorm erleichterte. Stolz auf die eigene Universität zu sein und sich mit dieser derart zu identifizieren war mir fremd. Als wir mit dem Surf Club im April auf die Scottish Uni Surf Championships nach Aberdeen fuhren, waren wir stolz, die University of Glasgow repräsentieren zu können und landeten in der Gesamtwertung (als einzige teilnehmende Universität, die nicht am Meer liegt!) sogar auf dem dritten Platz.
Was mich sonst noch überrascht hat: das Wetter, das zwar sehr wechselhaft, aber oft auch besser als in Deutschland war, die Tatsache, dass man in Schottland surfen (lernen) kann und es wirklich nicht so kalt ist, wie man denkt, die Wut der Jugend über den Brexit und Fremdbestimmung aus Westminster, der Stolz aller auf das eigene Land ohne jeglichen seltsamen übermäßig patriotischen Beigeschmack. Außerdem habe ich eine Offenheit vorgefunden, eine Hilfsbereitschaft in der Öffentlichkeit, die ich so nicht kannte. „Can I help you with your suitcase?” “Do you need directions?” People make Glasgow, heißt es nicht umsonst.
Nicht zuletzt bin ich dankbar für all die Freundschaften, die ich schließen durfte. Mit Schott*innen, die mir das Ceilidh tanzen beibrachten, mit einer Russin, mit der ich über den Krieg und ihre Situation zu Hause in Russland reden konnte, mit EU- und Nicht-EU-Bürger*innen. Mit Menschen wie mir, die für diesen Aufenthalt zum ersten Mal in ihrem Leben ein Visum beantragen mussten und ansonsten das Privileg des Schengen-Raums genießen, mit Menschen, die schon ihre gesamte Studienzeit lang Geld für Visa bezahlen müssen, um in diesem oder anderen Ländern existieren zu dürfen und in ihren Heimatländern nicht so wie ich das Privileg günstiger Bildung haben. Wenn ich hier und jetzt mit meiner russischen Freundin darüber spreche, wie unvorstellbar unser Gespräch für unsere Vorfahren vor 80 Jahren schien, gibt es auch Hoffnung, dass irgendwann Ukrainer*innen und Russ*innen so ein Gespräch führen werden können.
Erasmus ist nicht nur ein von EU-Geldern bezahltes Party-Semester, es ist gelebter Austausch und Freundschaft, Offenheit und Chance, fremde Kulturen, die ein Stück weit zur eigenen werden. Diese Errungenschaft fortzuführen und für noch mehr Menschen zugänglich zu machen, muss auch in Zeiten von Brexit und Krisen weiterhin Ziel der europäischen Agenda sein.