In alten Zeiten, als Studis sich noch nicht von der Seidenraupe abgeschaut hatten, den eigenen Leib in einen flauschigen Kokon aus schneeweißen Seidenfäden einzupuppen, muss die Welt wahrlich düster angemutet haben. Die ältesten unter uns berichten, in jenen Tagen habe die „Fear Of Missing Out“ alles Denken und Handeln beherrscht, die „Verpassensangst“ einer eventisierten Welt, deren Überreste längst verblichen sind. Es heißt, damals sei die Menschheit blind gewesen für die himmelschreiende Hässlichkeit ihrer Behausungen und habe das Cocooning, den Rückzug ins häusliche Gespinst reinster Gemütlichkeit, erst durch eine Reihe seltsam betitelter Ereignisse erlernt: Frühjahrsshutdown, Lockdown light, X-mas- und Brückenlockdown.
Über Nacht sorgte der Cocooning-Trend für einen Boom in vielen Gewerbebranchen, vor allem in Baumärkten und beim Online-Möbelkauf. Laut Handelsblatt hackten während der Coronakrise ganze 345 Prozent mehr Shopping-Geschöpfe die eBay-Suchanfrage „neue Betten“ in ihre Tastaturen. Andere Wohnungen erfuhren gleich eine gänzliche Verlebendigung: Dem Industrieverband Heimtierbedarf zufolge kreuchen und fleuchen seit vergangenem Jahr über eine Million neue Haustiere durch Deutschlands Domizile. Auch als Studi treibt einen hin und wieder der Gedanke nach einem geeigneten Einstiegshaustier um — natürlich Hauptsache, instagramtauglich; am besten irgendetwas Kostenloses aus dem Stadtpark, einen Igel oder eine Schnecke! Oder doch etwas bunt Gefiedertes vom Flamingoweiher?
Zwischen Kaufsucht und Kuschelwohnung
Aber selbst wenn der Mut zur Flamingo-Adoption dann letztlich doch nicht reicht: Man gönnt sich was, spart Geld, weil man nicht weggeht, und nimmt in den eigenen vier Wänden plötzlich alles viel deutlicher wahr. Wäre es nicht schöner, wenn der Nachttisch auf selbst gebastelten Holzfüßen stünde? Für die Uni den ganzen Tag vor dem Laptop sitzend ist der Weg zu den dunklen Pfaden des Onlineshoppings nie allzu weit, und so ist Freizeitbeschäftigung Nummer eins ganz klar Interieur-Scrolling, die allgegenwärtige Internetsuche nach allem, was sich in Innenräumen horten lässt: neue Bücherregale, Kuscheldeckchen, Zimmerpflanzen, Fußball-Fan-Trikots, Bücherregale, Schuhe, Kerzen, Blumenkübel vor dem Fenstersims. Und weitere Bücherregale. Überaus abartige, im Regal viel zu viel Platz verschwendende Buchstützen? In den Einkaufswagen!
In den Weiten des Bücherkokons
Vielleicht doch lieber irgendwann auf Kindle umstellen? Kommt gar nicht in Frage — virtuell kann man nichts hamstern. Und es ist auch einfach ein anderes Gefühl, als Studi-Raupe im Büchergespinst zu leben, die Paperback- und Hardcovertürme höher und höher an den Wänden zu stapeln; immer weiter auf der Jagd nach alten Büchern. Ganz ohne mein Zutun taucht schon wieder ein fast ausgestorbener Taschenbuchdinosaurier auf meinem Bildschirm auf, vom Verlag längst nicht mehr nachgedruckt. Nur noch ein Stück auf Lager, Lieferung in sechs Wochen. Verfluchter Schiffsversand!
Fast vom Stuhl stürzend zucke ich zusammen, als plötzlich der schrille Ruf der Türglocke die heimelige Stille durchbricht. Sicher wieder die Post, noch mehr Pakete. In vollem Ornat schlurfe ich feierlich der Tür entgegen: Studi-Frühjahrslook mit Mundschutzmaske, Bademantel und lässiger Sonnenbrille.
Deutlich langsamer schnaufe ich wieder zum Stuhl zurück, schleppe mich japsend die letzten eineinhalb Meter. Als Studi im Stadium der Puppenruhe ist man es einfach nicht mehr gewohnt, derart weite Strecken mit den eigenen Beinen zurückzulegen. Warum auch? Wie viele Schritte braucht es, um Kingsbridge und Transsylvanien zu durchqueren, Arkham und die Vatikanstadt, über den Oregon Trail, Wüsten- und Eisplaneten zu wandern?
Dämmergrau
Egal, wie sehr der Frühling lacht, die Jalousien bleiben unten. Ich lasse nichts und niemanden in mein trautes Heim hinein, schon gar nicht die blendende Sonne. Der alte Ohrensessel in der Ecke frohlockt ohnehin erst wirklich im Schummerlicht und döst behaglich weiter vor den Regalwänden, umgeben von großen Werken und großen Fragen. Entzündet sich Papier ohne weitere Einwirkung ab einer Temperatur von 451 Grad Fahrenheit? Die Antwort liegt noch immer irgendwo in einer der Zimmerecken: Backhandschuhe, Heißluftföhn und ein kleines Aschehäuflein.
Hyggelig rolle ich mich in tausendundeine Decke ein und knautsche mich auf dem Sessel zusammen. Die Zeilen des Buches in meiner Hand beginnen schnell zu schrumpfen. Blick aufs Handy, „Schon fast 17 Uhr,“ denke ich noch, dann sackt mein stolzes Haupt mit offenem Mund gegen die Kopfstütze, wo es bis zum nächsten Morgen kleben bleibt, im stillen Genuss der Weite dieser Welt.