Marvel und DC waren gestern! Im Jahr 2020 ist Nichtstun bereits ein Dienst an der Gemeinschaft, jeder kann durch Faulheit Leben retten – so zumindest die Auffassung der Bundesregierung. Diese veröffentlichte Mitte November auf diversen Kanälen im Netz drei kurze Videoclips unter dem Hashtag „#besonderehelden“. Sie zeigen das fiktive Ehepaar Anton und Luise Lehmann sowie den Gamer-Verschnitt Tobi Schneider, die im Alter nostalgisch auf den „Corona-Winter 2020“ zurückblicken. Im Stil einer Geschichtsdokumentation gedreht und mit dramatischer Musik hinterlegt sollen die Videos auf humorvolle Art und Weise vor allem die jüngere Generation ansprechen und dazu animieren, zu Hause zu bleiben.
Blöd nur, dass sich die kleinen, hippen Videos besonders durch eines auszeichnen: Zynismus. Denn: Die Bundesregierung hat offensichtlich ein völlig falsches Bild davon, wie das Student*innenleben generell, aber vor allem zu Corona-Zeiten, aussieht. Die ersten beiden Videos handeln von einem gut situierten Pärchen, welches in einer geräumigen Wohnung lebt und genug Geld zur Verfügung hat, um sich regelmäßig Essen zu bestellen. Diese Darstellung entspricht weder der durchschnittlichen Lebensrealität der Zielgruppe noch einem Großteil der Bevölkerung in Deutschland, nicht mal in pandemielosen Zeiten. Eine Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung aus dem September 2020 fand heraus, dass jede*r zehnte Student*in im Zuge des ersten Corona-Semesters wieder zu den Eltern gezogen ist, um Geld zu sparen. Zu Hause haben Student*innen mit einer Vielzahl von Problemen zu kämpfen, von technischen Einschränkungen über fehlende Motivation und Privatsphäre bis hin zu seelischen Beschwerden.
Laut einer Untersuchung der Universität Hildesheim beklagten Student*innen während des ersten Lockdowns am häufigsten ihre soziale Isolation. Unverhältnismäßig hart trifft die digitale Lehre dabei Studienanfänger*innen, die auf einen Großteil der Einführungsveranstaltungen und spaßigen Kennenlern-Events verzichten müssen. Ohne diese immens wichtigen sozialen Kontakte zu Beginn des Studiums ist es ihnen kaum mehr möglich neue Freundschaften zu knüpfen. Stattdessen werden sie direkt in den Studienalltag geschmissen und in vielen Fällen mit einem Workload konfrontiert, der selbst für erfahrene Student*innen in der aktuellen Situation überfordernd sein kann. Dann erscheint es nur selbstverständlich, wenn die Luisas, Antons und Tobis der realen Welt nicht gerade „faul wie die Waschbären“ auf dem Sofa liegen und dort „rumschimmeln“ oder „rumgammeln“.
Neben dem zutiefst abwertenden Bild, das von Student*innen gezeichnet wird, bedienen sich die Videos bewusst der Kriegsrhetorik. Anton, Luise und Tobi seien jeweils in Chemnitz oder Bochum „im Einsatz“ gewesen und hätten bewaffnet mit Geduld an der Couch als „Front“ gekämpft. Tobi kann das sogar mit einer „DU BIST EIN HELD“-Medaille belegen. Diese Art der Inszenierung ist schlichtweg geschmacklos. Besonders, wenn man sich überlegt, welche Gruppen die Pandemie derzeit ebenfalls auf eine Stufe mit dem Zweiten Weltkrieg heben: Auf Querdenker-Demos finden regelmäßig Vergleiche mit Anne Frank oder Sophie Scholl statt und das Infektionsschutzgesetz wird schnell mal zum Ermächtigungsgesetz. Es ist interessant zu sehen, wie beide Seiten eine solche Rhetorik für sich nutzen, um das Gegenteilige als heldenhaft zu betiteln.
Was bleibt nach dreimal gut 90 Sekunden mit den Lehmanns und Herrn Schneider? Nun, vor allem der Eindruck einer Bundesregierung – ausgestattet mit viel Pathos und umso weniger Fingerspitzengefühl – die ihre Zielgruppe nicht gut kennt und sie deshalb schlicht verfehlt und beleidigt. Schwer wiegt zudem die Kritik derjenigen, die nicht zu Hause bleiben können, weil sie in systemrelevanten Berufen arbeiten und an den hiesigen Supermarktkassen oder den Krankenhäusern Sonderschicht um Sonderschicht schieben. Dafür werden sie weder ansatzweise ausreichend entlohnt noch gewürdigt. Das Geld, welches in die Videos geflossen ist, wäre an dieser Stelle deutlich sinnvoller investiert gewesen.