Jetzt läuft sie also, die Skandal-WM. In Katar. Im Winter. In Stadien, für deren Bau Menschen gestorben sind. Nach einer, wie ich las, spektakulären Eröffnungsfeier inklusive Auftritten von Schauspieler Morgan Freeman und der südkoreanischen Band BTS besiegte die kleine Fußballnation Ecuador den Fußballzwerg Katar am Sonntag mit 2:0. Und Fußballfans auf der ganzen Welt (vor allem im sogenannten Westen, wo das Turnier deutlich kritischer gesehen wird als anderswo) mussten sich erstmals entscheiden: Schauen oder Nichtschauen?
Das ist eine Frage, die mich in den letzten Wochen begleitet hat. Ich stellte sie und bekam sie gestellt – am Frühstückstisch, in der Kneipe, in der Umkleidekabine, bei einem Interview mit einem Viertligaspieler. Es ist eine spannende Frage, weil sie für die allermeisten Menschen lange eine sehr leicht zu beantwortende war. Wer Fußballfan ist, schaut selbstverständlich die Fußballweltmeisterschaft. Wer es nicht tut, ist kein Fußballfan. Seit Katar ist das anders.
Und doch ist die Frage eigentlich falsch, finde ich. Weil sie suggeriert, dass es sich bei dieser wahnsinnigen Großveranstaltung um ein singuläres Event handelt, einen Einzelfall quasi. Die WM in Katar ist ein Fehler. Na und? Fehler passieren den Besten, selbst dem König Fußball. Ob man sie jetzt moralisch erhaben boykottiert oder ein wenig beschämt auf dem heimischen Sofa schaut – am dritten Januarwochenende geht die Bundesliga wieder los, am 14. Februar die Champions League, die englische Premier League startet sogar noch vor Silvester in die Rückrunde. Und die nächste Europameisterschaft ist ja auch nicht mehr weit: 2024 findet sie in Deutschland statt. Spätestens dann ist der Schrecken vorbei und alles wieder gut in der heilen Fußballwelt. Schön wär’s.
Die Wahrheit ist: Diese Weltmeisterschaft ist die logische Folge einer jahrzehntelangen Entwicklung des Fußballgeschäfts, das niemals annähernd so perfekt war wie das wunderbare Spiel, dem es seine Existenz verdankt, aber aktuell so unerträglich ist wie noch nie. Wenn am 26. Dezember die englische Eliteliga ihre Saison fortsetzt, wird dort auch Newcastle United ein Spiel absolvieren. Seit einem guten Jahr gehört dieser Verein faktisch Saudi-Arabien, einem Land also, neben dem Katar wie ein liberaler Wohlfahrtsstaat wirkt. Für etwa 350 Millionen Euro hat der saudische Kronprinz jetzt das Sagen bei dem englischen Traditionsverein. Unterdessen können sich viele Menschen in England den Stadionbesuch nicht mehr leisten.
Im Achtelfinale der Champions League wird Paris Saint-Germain auf den FC Bayern München treffen. Paris gehört den Kataris, so wie Newcastle den Saudis gehört und der deutsche Rekordmeister wirbt auf seinen Trikotärmeln für die staatliche Fluglinie Katars. Als ein Fan das auf der Mitgliederversammlung des FC Bayern kritisierte, fuhr der Ehrenpräsident und Steuerhinterzieher Uli Hoeneß den Mann an: „Wir sind hier nicht bei Amnesty International!“
Man könnte jetzt noch erzählen, dass der Fußballweltverband Fifa durch und durch korrupt ist – das deutsche Sommermärchen 2006 war genauso gekauft wie die anschließenden Weltmeisterschaften in Südafrika, Brasilien, Russland und Katar. Oder man könnte erzählen, wie der Videoschiedsrichter das Stadionerlebnis kaputt macht. Oder dass den Verantwortlichen das Stadionerlebnis egaler und egaler wird.
Ich würde zum Abschluss aber lieber erzählen, dass ich das WM-Eröffnungsspiel nicht gesehen habe. Nicht um mich moralisch zu erheben, ich bin sehr sicher, dass auch ich mir einige Spiele aus Katar ansehen werde. Sondern um zu erzählen, was ich stattdessen gemacht habe. Von halb zwei an war ich diesen Sonntag auf der Bezirkssportanalage meines Vertrauens, habe erst der zweiten und dann der ersten Mannschaft meines Heimatvereins beim Gewinnen zugesehen (4:0 und 3:0!) und bin dann zufrieden nach Hause geradelt, um diesen Text zu schreiben.
Von der Regionalliga abwärts läuft der Spielbetrieb während der WM ganz normal weiter. Und dieser Fußball, der wird auch stattfinden, wenn es einen neuen Weltmeister gibt und wenn die Champions League wieder läuft und wenn Bayern München zum elften Mal in Folge Deutscher Meister ist.
Dieses Spiel werden wir auch dann noch spielen, wenn das Fußballgeschäft endlich tot ist. Denn um nicht zu spielen, dafür ist Fußball viel zu wunderbar.