Der Tag ist endlich gekommen. Am Montag wurde bekanntgegeben, dass am Freitag alle Maßnahmen aufgehoben werden. Sofort ist mir die Kaugummiwerbung eingefallen, in der alle verwahrlost aus dem Haus rennen, sich in die Arme fallen und küssen. Ich luge aus dem Fenster. Die Straßen sind noch recht leer, aber es ist auch noch 12 Uhr morgens. Tinder habe ich sicherheitshalber trotzdem schon einmal deinstalliert. Ich hätte das schon während der Pandemie tun sollen. Die Studis schlafen bestimmt aus, denn der Tag soll heute lang werden. In der Kürze von vier Tagen hat die Stadt Mainz Großes auf die Beine gestellt.
Der 11.11. sowie zweimal Fastnacht werden in der Innenstadt und den Bars an nur einem Abend nachgefeiert. Die Aktion „Dreimal Helau“ beinhaltet, dass das eingenommene Geld von Biontech dazu verwendet wird, jede*r Barbesucher*in drei Kurze zu spendieren. Die Verkleidungsmuffel unter den Studierenden haben noch ein Ausweichprogramm. Auf dem Campus steigt die Party „Das fünfte Erstsemester“. Jede Fachschaft hat eine eigene kleine Bar aufgebaut, außerdem haben viele eine Aktion geplant. Bei den Geos stellen alle ihre besten Steinfreund*innen vor, die sie während der Pandemie gefunden hat. Die Fachschaft Publizistik hat eine große Fotobox gemietet. In der Medizinbar kann man einen Booster kaufen, eine fiese Mischung aus Pfefferminzschnaps, Wodka, Ahoi-Brause und einer Geheimzutat. Die juristische Fakultät wird Spalier stehen, sodass jede*r einmal durch die Reihe laufen und wie ein*e Sieger*in nach einem Marathonlauf mehrere Hände abklatschen kann. Heute sind wir alle Sieger*innen und wir sind auch alle einen emotionalen Marathon gelaufen. Apropos Sport. Die Sportlerpartys waren immer legendär. Die Bar wurde „Heute ohne Pamela“ getauft. Es gibt nur zuckersüße und chemisch bunte Cocktails dort.
Ich verbringe die ersten Stunden des Tages vor dem Bildschirm. Mein Computer und ich waren während der letzten zwei Jahre immer wieder in einer Ehekrise und ich bin eigentlich der Meinung, dass es ist Zeit für eine Beziehungspause ist. Heute ist mein Ziel weder Teams, die Seite der Unibibliothek noch Moodle. Ich buche mir eine Weltreise und bewerbe mich für fünf Praktika.
Die Jogginghose ist die Liebe meines Lebens
Bevor die Innenstadt komplett verstopft ist, muss ich noch zu meinem zweiten Zuhause während der Pandemie: dem Supermarkt. Meine Jogginghose sieht fast ein wenig traurig aus. Nicht weil sie ein paar Überreste vom Frühstück auf sich hat und den einen oder anderen Zahnpastafleck, sondern, weil wir uns trennen müssen. Sie war stets mein treuer Begleiter. Wenn mir kalt war, hat sie jedes meiner Beine flauschig umarmt und mir ein wohliges Zuhausegefühl gegeben. Neumodisch heißt das wohl hygge.
In Unterhose stehe ich vor meinem Kleiderschrank. Niemals hätte ich geahnt, dass er so tief sein kann. Ich vertreibe eine Spinne und ziehe aus dem letzten Winkel eine Jeans, die schon ein wenig eingestaubt ist. Ich fühle mich so heroisch wie Artus, als er Excalibur nach mehreren Jahrhunderten aus dem Stein zieht. Und wenn ich schon bei Märchen bleibe, will ich heute auf jeden Fall Schneewittchen sein. Ich liebe Lippenstift, aber mit einer Maske ist das kein Vergnügen. Immer bleibt er im Inneren der Maske kleben. Ich zücke einen feuerroten Lippenstift, nicke mir ernst im Spiegel zu und wage mich vor die Haustür.
Vor dem Supermarkt angekommen, klopfe ich reflexartig meine Manteltaschen ab und suche die Maske. Vergessen. Egal. Mein obligatorischer Jutebeutel liegt allerdings auch noch zu Hause. Ich klemme mir Snacks, Spirituosen und Wein unter den Arm und hechte an überfüllten Cafés und Restaurants vorbei. Eine übervolle Straßenbahn überholt mich auf dem Nachhauseweg. Die Menschen stehen so eng, dass sie sich nicht mehr festhalten müssen. Vielleicht war an Corona doch nicht alles schlecht. Einige Mitreisende scheinen das auch zu denken. Ich sehe ein paar Angsttropfen in Zeitlupe das Gesicht herunterlaufen und die Augen wandern unruhig hin und her. Ein Dino und ein Tiger stehen nah an der Tür und lächeln mir zu. Jede*r strahlt heute einfach jede*n an, das ist mir schon an der Supermarktkasse aufgefallen. Der Tiger hat eine große Bluetooth-Box unter dem Arm. Der ganze Wagen scheint von der Fastnachtsmusik zu vibrieren. Die Bahn biegt um die Ecke und verschwindet dröhnend in Richtung Schillerplatz. Ein echter Fastnachtszug!
In der Altstadt hängt noch alle paar Meter ein Schild, dass hier Schnelltests angeboten werden. Sie wehen unnütz im Wind, als gehörten sie zu einem Filmset für einen Westernfilm. Da heute ganz Mainz in Marktfrühstück-Trinklaune ist, könnte man doch alternativ einfach Teststationen für die Promille einrichten. Ich habe wenig Zeit und eile nach Hause, das Vorglühen ist sehr früh angesetzt.
10 Leute sind eingeladen, aus Gewohnheit, aber jede*r darf noch Leute mitbringen. Also werden es wahrscheinlich eher 11. Oder vielleicht sogar 12 kleine Jägermeister. Die Küche meiner WG füllt sich und der Raum wird erfüllt von Stimmen und Musik. Die Stimmung könnte nicht besser sein. Ich schaue mich um und sehe mehr hübsche Menschen als auf Tinder in zwei Jahren. Ich komme mit einem Gast ins Gespräch. Nachdem er mir seinen Namen sagt, muss ich lachen. Wir beide hatten schon mehrere Seminare zusammen und ich weiß, dass er sehr lustige Zweitnamen hat. Teams enthüllt direkt das Geheimnis, wer noch nach Großmutter oder Großvater benannt ist. Jetzt lerne ich auch das Gesicht zum Namen kennen, während der Pandemie war das umgekehrt. Aber was seit 2020 passiert ist, ist egal. Es wird ein guter Sommer, denke ich mir und zum ersten Mal glaube ich dem Gedanken auch.