Sex, Drugs and Julian Reichelt

Lange wurde sein Name mit Deutschlands auflagenstärkster Boulevardzeitung, der Bild, in Verbindung gebracht: Julian Reichelt. Vor wenigen Wochen wurde ihm jedoch Mobbing und sexueller Missbrauch vorgeworfen, was letztlich sogar zu seinem Rauswurf aus der Alex-Springer-Familie führte. Doch was hat es auf sich mit den Behauptungen, die gegen den Journalisten erhoben werden und einen gesellschaftlichen Aufschrei provozierten?

Von Anso Joos-Arp
Foto: Anja Jeitner/ Quellen: © Superbass / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons), 2018-11-07-Gruppenfoto-Maischberger-1134 / 2018-11-07-Julian Reichelt-Maischberger-1141, cut by Anja Jeitner, CC BY-SA 4.0 / © Marco Verch | ccnull.de | CC-BY 2.0

Zu Beginn zunächst eine kurze Charakterisierung einer Persönlichkeit, die in der öffentlichen Wahrnehmung durchaus polarisiert. Die Vita des gebürtigen Hamburgers zeichnet ein Bild, das früh eine steile journalistische Karriere verspricht. Sein Handwerk wird ihm bereits von seinen Eltern in die Wiege gelegt, sie arbeiten ebenfalls beide als Journalist*innen. Reichelts Ausbildungsweg lässt früh erkennen, wohin es ihn führt: Mit einem Volontariat zwischen 2002 und 2003 bei der Bild und einer Journalistenausbildung an der Axel-Springer-Akademie, sichert sich Reichelt seinen Platz in der Bild-Familie. Schnell klettert der Boulevardjournalist die Karriereleiter weiter nach oben. Bereits nach vier Jahren als Kriegsberichterstatter wird er 2007 Chefreporter und im Februar 2017 Vorsitzender der Chefredaktion. Julian Reichelts Stärke: Die Gesellschaft durch sensationsorientierte und plakative Aufmachungen und seinen extremen Überzeugungen aufregen.

Deutschlands Boulevardpresse in der Krise?

Schon seit einigen Jahren kämpft die Boulevardpresse gegen den Bedeutungsverlust an. Es scheint, als würden die Schlagzeilen immer aufmerksamkeitsherrschender und die Texte immer inhaltsloser. Doch im Zuge der Corona-Pandemie treibt es die Bild auf die Spitze. Regelmäßig wird der Umgang der Bundesregierung mit dem Virus in Talkrunden auf Bild Live angegriffen. Der private TV-Sender der Zeitung ist eine Invention Julian Reichelts. Ebenso wie die Dokumentarfilm-Serie BILD.Macht.Deutschland?, die sich in der Bibliothek des Pay-TV Senders Amazon Prime finden lässt und Einblicke in die redaktionelle Arbeit der Bild-Zeitung gewährt.

Immer wieder führt die Bild zu Diskussionen. Doch die Aufmerksamkeit, der sich die Zeitung aktuell konfrontiert sieht, rührt nicht von herausfordernden Schlagzeilen und negativer Stimmungsmache. Es werden wiederholt Vorwürfe gegen den Chefredakteur Julian Reichelt erhoben, die am 18. Oktober 2021 in seiner Entlassung aus dem Springer-Verlag münden.

Die Frauen werden nach „Fuckability“ beurteilt

Im Frühjahr 2021 meldet der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre Reichelts Fehlverhalten der Konzernleitung des Axel-Springer-Verlags. Angeblich soll er seine Machtposition als Chefredakteur ausgenutzt haben, um jüngere Mitarbeiterinnen, vor allem Volontärinnen und Praktikantinnen, sexuell zu belästigen und zu nötigen. Auch wenn die Beziehungen einvernehmlich eingegangen worden seien, erzählen betroffene Frauen von einem toxischen Abhängigkeitsverhältnis. Durch das Verhältnis zu Julian Reichelt seien ihnen gewisse Vorteile zuteilgeworden. Manche seien sogar in höhere Positionen versetzt worden, in denen sie sich überfordert gefühlt hätten. Sie berichten davon, nach „Fuckability“ beurteilt worden zu sein (aus dem Spiegel, 18.10.2021). Neben der sexuellen Nötigung steht gegen den Ex-Chefredakteur zudem der Vorwurf des Kokainkonsums am Arbeitsplatz im Raum. Julian Reichelt muss sich einer unternehmensinternen Untersuchung stellen und lässt sich für zwei Wochen befristet von seiner Arbeit freistellen. Trotzdem streitet er die Vorwürfe vehement ab. Die Führungsetage des Springer-Verlags beauftragt das Complience-Management die Vorfälle mithilfe der Rechtsanwaltskanzlei Freshfields zu untersuchen. Sie kommen zu dem Schluss: Die Investigation liefert keine Anhaltspunkte für die schweren Anschuldigungen. Es sei lediglich zu einer Vermischung von Beruflichem und Privatem gekommen. Reichelt kehrt (vorerst) in die Bild-Redaktion zurück. Seinen Posten als Chefredakteur muss er sich jetzt allerdings teilen – mit einer Frau.

Die Rückkehr währt nicht lange. Bereits ein halbes Jahr später führen neue Enthüllungen dazu, dass Julian Reichelt endgültig seinen Posten als Geschäftsführer wegen „Fehler[n] in der Amts- und Personalführung“ verliert. Ein Investigativ-Team der Mediengruppe Ippen hatte zu den Vorfällen und dem Arbeitsklima in der Axel-Springer-Zeitung recherchiert und beruft sich auf Zeugenberichte betroffener Mitarbeiterinnen. Angestoßen wurde der Vorgang durch einen Artikel der New York Times vom 18. Oktober 2021, auf den der Spiegel reagierte. Darin wurden die Rechercheergebnisse der Investigativjournalist*innen skizziert. Die Mediengruppe Ippen dagegen zog ihre eigene Publikation kurzfristig zurück. Die offizielle Begründung lautet: Die Quellen wollen nun doch lieber anonym bleiben. Darin besteht seit einer Verlautbarung des Verlagschefs Dirk Ippen aber begründete Zweifel. Da das Ippen-Medienhaus im direkten Konkurrenzkampf mit der Bild stehe, wolle man dem Gegner mit der Veröffentlichung der Recherche keinen wirtschaftlichen Schaden zufügen. Gegenstand der Enthüllungen sind erneut sexueller Missbrauch, Nötigung und Drogenmissbrauch am Arbeitsplatz.

Die Entlassung folgt prompt

Bereits am nächsten Tag meldet die Axel-Springer SE in einer offiziellen Pressemitteilung: „Die Axel- Springer SE hat Bild-Chefredakteur Julian Reichelt mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden“. Die Leitung übernimmt Johannes Boie und man werde die Unternehmenskultur überarbeiten. Künftig muss eine persönliche Beziehung am Arbeitsplatz transparent offengelegt werden. Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Verlags, wendet sich in zwei Videobotschaften an die Belegschaft und Öffentlichkeit. Er und einige andere Mitarbeiter*innen der Zeitung grenzen sich jedoch nicht deutlich vom Verhalten Julian Reichelts und der toxischen Unternehmenskultur ab. Döpfner gerät ebenfalls in den Blick des öffentlichen Protests.

Trotz der sofortigen Stellungnahme des Verlagshauses brodelt die gesellschaftliche Debatte. Die #MeToo-Bewegung erfährt in Deutschland so viel Aufschwung wie seit 2016 nicht mehr. Übergriffe und Belästigungen von Frauen am Arbeitsplatz, Gender-Pay-Gap: Das Complience-Verfahren um Julian Reichelt bietet zahlreiche Anlässe zur Diskussion. Wie soll die Debattenkultur in der deutschen Journalistenlandschaft aussehen? Wie soll künftig über Kontroverses berichtet werden? Wie sieht ein gesundes und gleichberechtigtes Arbeitsverhältnis aus?

Ob Julian Reichelts Rauswurf die Bild-Zeitung tatsächlich trifft, ist fraglich: Unter dem Vorsitz Reichelts als Chefredakteur verzeichnete die Bild einen Rückgang von 550.000 Exemplaren. Nicht nur die öffentliche Meinung, auch der Presserat debattiert zurzeit unter anderem den Umgang des Boulevardblatts mit Covid-19 und die scharfe Kritik am Virologen Christian Drosten. Ob Reisebeschränkungen, Lockdown oder eine Impflicht: Die Debatte wird befeuert durch Diskussionsrunden auf Bild Live und Schlagzeilen wieFragwürdige Methoden: Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch. Der Deutsche Presserat befindet: Die Bild verstößt gegen den Pressekodex.

Reichelt selbst kommentiert seinen Rauswurf auf Twitter mit den Worten: „Ich weiß, wie viele Politiker es herbeigesehnt und befeuert haben, dass man mir die Möglichkeit nimmt, BILD als klarste und unüberhörbare Stimme des freiheitlichen Denkens zu verteidigen“. Noch ist unklar, ob sich eine Redaktion findet, die den Ex-Chefredakteur mit diesem Führungszeugnis einstellt. Klar macht Julian Reichelt jedoch: „(…) das wird mich nicht davon abhalten, klar zu benennen, was in unserem Land passiert“.

Ein Vernichtungsfeldzug gegen einen Journalisten

Etwa eine Woche nach seinem Rauswurf gibt Julian Reichelt der Zeit ein Interview mit einer Stellungnahme zu den Sexismus-Vorwürfen, die gegen ihn erhoben werden. Doch anstelle einer Aufklärung oder einer Entschuldigung gibt sich Reichelt unwissend und uneinsichtig. Opfer einer Verleumdung nennt er sich und die Vorwürfe betitelt er als „einen Vernichtungsfeldzug gegen einen Journalisten“. Auf Nachfrage der Zeit, ob Mathias Döpfner bei der Begründung für Reichelts Rauswurf gelogen habe, reagiert er mit folgenden Worten: „Man hat mich unterm Strich wegen meiner Beziehung rausgeworfen. Dafür, dass ich einen Menschen liebe.“ Spannungen zwischen Menschen, besonders zwischen Mann und Frau, hält der Ex-Chefredakteur für unerlässlich und so relativiert er Affären am Arbeitsplatz als etwas „was uns als Zivilisation ausmacht“ . Reichelt wirft dem Axel Springer Verlag vor, dass man ihm, obwohl keine Belege für die Machtmissbräuche gefunden werden konnten, keine Möglichkeit gegeben habe, sich zu verteidigen. Da stellt sich dem Leser die Frage, wofür er sich hätte verteidigen wollen, wenn es doch angeblich keinen Grund dazu gäbe. Wo eine einfache Entschuldigung angebracht wäre, hetzt Reichelt gegen die öffentlich-rechtlichen Medien und gegen andere Verlage, wie den Spiegel. Dieser habe die Sachverhalte frei erfunden, um ihm zu schaden – wie im Fall Relotius.

Die Zeit-Journalistin Cathrin Gilbert, die vor 17 Jahren ebenfalls bei der Bild volontierte, schließt das Interview mit der Frage, welche beruflichen Pläne Julian Reichelt denn nun anstrebt. Dieser kommentiert nur: „Nach zwanzig Jahren loyaler Arbeit (…) wurde ich in zwanzig Minuten am Telefon entsorgt“, aber „Never Surrender!“.


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