Wie weit würdest du gehen? Diese Frage kommt oft dann auf, wenn es um Leben oder Tod geht, oder um sehr viel Geld. Eine Frage, die sich Regisseur und Autor Hwang Dong-hyuk in seinem Werk zunutze macht, um den Spannungsbogen nicht abfallen zu lassen. Die südkoreanische Serie „Squid Game“, zu sehen auf Netflix, ist eingeschlagen wie eine Bombe. Innerhalb eines Monats wurde sie zur erfolgreichsten Netflix-Produktion überhaupt. Aber was steckt hinter dem Hype?
„Squid Game“, zu Deutsch „Tintenfischspiel“, ist eine neunteilige Drama-Serie, die im heutigen Südkorea spielt. Der Glücksspielsüchtige und hoch verschuldete Protagonist Gi-Hun erhält eine geheimnisvolle Einladung, die ihm die Möglichkeit eröffnet, an einem besonderen Turnier teilzunehmen. Insgesamt 456 Spieler*innen haben die Chance, ein Preisgeld von umgerechnet 33 Millionen Euro zu gewinnen. Zu Beginn weiß jedoch keine der teilnehmenden Personen, welche Aufgaben und Regeln sie erwarten. Langsam aber sicher wird klar: In diesem Turnier gilt es Kinderspiele mit- oder gegeneinander zu spielen und zu gewinnen. Die Crux: Wer sich nicht an die Regeln hält oder verliert, muss sterben. Die meisten Teilnehmenden sind hoch verschuldet oder haben existenzielle Probleme, die sich nur mit viel Geld lösen lassen. An dem Spiel nehmen alle freiwillig teil.
„Die dargestellten Spiele in der Serie sind extrem einfach zu verstehen. Das erlaubt es den Zuschauern, sich auf die Figuren zu konzentrieren“, sagt Autor und Regisseur Hwang Dong-hyuk über den Reiz der Serie. „Figuren, die um ihr Leben kämpfen“.
Die Menschlichkeit in der Abstraktion
Die Faszination am Kampf ums Überleben ist nichts Neues und wurde schon in etlichen bekannten Filmen und Serien erfolgreich umgesetzt. Unter anderem in „Die Tribute von Panem“, „SAW“ oder „Battle Royal“, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Diese Faszination ist wohl ein Hauptelement zum Erhalt des andauernden Spannungsbogen. Das Turnier endet nämlich erst, wenn nur noch eine Person übrig ist.
Hwang Dong-hyuk lenkt den Blick der Zuschauenden auch auf die gesellschaftliche Kritik an Ungerechtigkeit, Kapitalismus und Gier. Durch die relativ simple Rahmenhandlung des Überlebenskampfes lässt sie einen genaueren Blick auf die einzelnen Charaktere und deren Lebenssituationen zu. Alle Teilnehmenden des Turniers haben zwar ähnliche Probleme, kommen jedoch aus sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus. Ob Banker*in, Bandenchef*in oder Betrüger*in, alle werden angetrieben von einer finanziellen Notlage. Interessant ist zu sehen, wie sich die verschiedenen Figuren verhalten, wie sie Gruppen bilden und untereinander agieren.
Eine zentrale Rolle für die Charakterentwicklung spielen Klischees. Diese werden anfangs aufgebaut, um teilweise wieder gebrochen zu werden. Sei es der gefühllose Gang-Anführer, welcher plötzlich die Zuneigung einer Frau zulässt oder ein egoistischer Banker, der beginnt, sich für eine Gruppe einzusetzen. All diese Elemente tragen dazu bei, sich leicht mit der Serie identifizieren zu können und Sympathie zu den Protagonist*innen aufzubauen.
Auch die Gestaltung erzählt Geschichten
Auch gestalterisch bietet die Serie ein hohes Maß an Identifikationspotential. Unter anderem wird mit Anspielungen auf ikonische Kunstwerke gearbeitet, die ein Gefühl der Ästhetik vermitteln. Im (AD) Architectural Digest Magazin, einer Zeitschrift für Inneneinrichtung, Architektur und Design, welche seit 1920 weltweit in 11 Ländern erscheint, äußerte sich Produktionsdesignerin Chae Kyoung-sun zu den versteckten Kunstreferenzen: „Ich wollte mit der Struktur der Treppe, die sich wiederholt und keinen Ausgang hat, die Ausweglosigkeit für die Teilnehmer darstellen“. Die Treppe bezieht sich auf M.C. Eschers surreale Grafik „Relativity“ aus dem Jahr 1953. Wie auch im Original, sind im Treppenhaus von „Squid Game“ alle Figuren gleich gekleidet und haben verdeckte Gesichter. Eine weitere ikonische Referenz findet sich in der Dinner-Szene der letzten drei Kandidaten. Der Bezug zu Judy Chicagos bahnbrechender Installation „The Dinner Party“ (1974–79) drängt sich geradezu auf. Die Verbindung der geometrischen Formen, welche die ganze Serie prägen, lässt sich hier besonders gut erkennen. Das Dreieck, der Kreis und das Viereck spielen eine immer wiederkehrende Rolle in der gesamten Gestaltung. Auch die Anspielung auf Edvard Munchs „Schrei“ ist wohl kaum jemandem entgangen. Sehr spannend sind ebenfalls die Hintergründe zu den Referenzen, die sich nicht so offensichtlich aufdrängen. Die bunten rosa und grünen Farbtöne, sowie die riesige Figur des Spiels „Rotes Licht, grünes Licht“ sind eine Anspielung auf koreanisches Schulmaterial und Schulbuchillustrationen aus den 1970er- und 80er-Jahren. In dieser Zeit war das „Squid Game“ auf den Schulhöfen sehr beliebt. Chae beendet ihr Interview im AD-Magazin mit einer klaren Botschaft: „Die Räume, die Strukturen im Spiel und die Farben spiegeln uns alle wider, die wir im endlosen Wettbewerb überleben müssen, und mit uns die Realitäten einer Welt der Ungleichheit, in die jeder hineingeboren wird“.
Ein Hype mit Botschaft
Der Einblick in die gestalterischen und philosophischen Hintergründe macht es möglich zu verstehen, welche Intention die Künstler*innen verfolgt haben. Auf der Welt wird jede und jeder mit sozialer Ungerechtigkeit konfrontiert und muss die eigene Rolle im Wettbewerb um das (Über-)Leben finden. Darauf fußt womöglich der riesige Hype der südkoreanische Erfolgsserie. Die Inszenierung der namenlosen Charaktere lässt den Zuschauenden genügend Raum, um deren Lage auf sich selbst zu projizieren und über die eigene Lebenssituation nachzudenken. Wenn „die Figuren, die um ihr Leben kämpfen“ unsere Gesellschaft darstellen, so kann man die Geschichte als Motivation sehen, sein Leben immer selbst in die Hand zu nehmen und nicht abhängig von Zufällen und der Entscheidung Anderer zu machen.