April 2021. Eine große Kampagne mit vielen berühmten Gesichtern zieht durch das Internet: #allesdichtmachen, #niewiederaufmachen, #lockdownfürimmer bestimmen die Twitter-Trends. 53 deutsche Schauspieler*innen kritisieren die Corona-Politik der Bundesregierung. Zusätzlich lassen sie ihrem Frust über die mediale Berichterstattung während der Pandemie freien Lauf – vergessen offensichtlich aber, dass sie in ihrer Berufsgruppe zu den wenigen gehören, die trotz mehrerer Lockdowns ihren Job überhaupt noch ausüben dürfen. Mit ironischen bis zynischen Aussagen verfehlt das Konzept sein Ziel, Kritik an Politik und öffentlicher Debattenkultur zu üben. Stattdessen werden die Schauspieler*innen, die in kurzen Videos ihre Statements abgeben, scharf in den sozialen Medien kritisiert; besonders von medizinischem und Pflegepersonal. Außerdem wird zum Boykott der beteiligten Prominenten aufgerufen: ein typisches Beispiel für Cancel Culture. Aber was ist das überhaupt?
Der Begriff Cancel Culture stammt aus den USA und beschreibt die gesellschaftliche, öffentliche Ächtung gegenüber meist berühmten Persönlichkeiten. Diese Ächtung erfolgt, nachdem der oder die Betroffene (moralisch) verwerfliche Aussagen getätigt hat, oftmals mit rassistischem oder sexistischem, also diskriminierendem Hintergrund. Übersetzt bedeutet Cancel Culture so viel wie Absage- oder Löschkultur, die auf den Boykott bestimmter Personen abzielt.
Herkunft des Begriffs
Wer einen Blick in die Schriften des britischen Philosophen John Stuart Mill aus dem 19. Jahrhundert wirft, erkennt, dass es das Phänomen der Ausgrenzung und öffentlichen Ächtung schon lange gibt: In einer Demokratie ist die Rede- und Meinungsfreiheit laut Mill als höchstes Gut zu betrachten. Kommt es jedoch zu diskriminierenden Meinungen, die anderen Personen schaden, können gesellschaftliches Ausgrenzen, das Vermeiden bestimmter Personen oder das Kritisieren dieser als Sanktionen eingesetzt werden. Dadurch werde der betroffenen Person vor Augen geführt, dass ihr Verhalten unerwünscht sei. Aber wie sieht dieses „Canceln“ fast 200 Jahre später aus?
Im August 2020 wurde die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart vom Veranstalter des „Harbour Front Literaturfestivals“ in Hamburg ausgeladen. Der Grund: Anschuldigungen des Antisemitismus bei einem Auftritt im WDR aus dem Jahr 2018. Daraufhin erhielt der Veranstalter vermeintliche Drohungen von Gewalt, falls die Künstlerin auftrete – und entschloss sich aus Angst vor Protesten, Eckhart auszuladen.
Lisa Eckhart ist nur ein Beispiel für Personen, die sich aufgrund ihrer Äußerungen einen Shitstorm einfingen – und nun mit den beruflichen Konsequenzen der Negativ-Schlagzeilen leben müssen. Vorteile des Cancelns sind, dass der Aufruf zur gesellschaftlichen Ächtung das Publikum eher dazu bewegt, über verwerfliche Inhalte nachzudenken und diese kritisch zu hinterfragen. Gleiches gilt für Personen in der Öffentlichkeit, die sich einen möglicherweise diskriminierenden Post oder Auftritt zweimal überlegen. Cancel Culture kann also zu einer profunderen Reflexion beitragen und sprachliches Bewusstsein fördern. Sie birgt aber auch Gefahren.
Die Kritik an der Cancel Culture steht in enger Verbindung mit der Meinung des anfangs erwähnten Philosophen Mill: Eine demokratische Gesellschaft muss in der Lage sein, öffentliche Diskurse auszuhalten – so unterschiedlich die Meinungslager auch seien mögen. Dabei spielt das Internet heutzutage eine wichtige Rolle: Es trägt zur rasanten Verbreitung von Inhalten bei, stellt sie häufig verkürzt dar und kann Statements völlig aus dem ursprünglichen Zusammenhang reißen. Somit erreichen einzelne Meinungsäußerungen und Inhalte oftmals viel höhere Reichweiten als im analogen Zeitalter oder werden durch Dekontextualisierung falsch wiedergegeben. Als Folge dessen sind Shitstorms nicht weit vom Canceln entfernt, wodurch Kritik an Künstler*innen, Politiker*innen oder anderen (berühmten) Persönlichkeiten schnell in Hetze ausarten kann. Wo Personen in der analogen Welt bei abfälligen Äußerungen ausgeschlossen wurden, können sie heute aufgrund der hitzigen öffentlichen Aufforderungen zum Boykott ihre Lebensgrundlagen, wie Job, Familie oder den Freundeskreis verlieren.
Die #allesdichtmachen-Kampagne brachte in einem großen Shitstorm immer wieder Forderungen hervor, Jan Josef Liefers solle unter anderem seine Rolle im Münsteraner „Tatort“ verlieren. Wichtig ist, dass es neben der scharfen Kritik an den Schauspieler*innen auch Zuspruch und Lob gab. Liefers konnte der Shitstorm wenig anhaben – er unterzeichnete kurz darauf den Vertrag für sechs weitere Tatorte. Das vermeintliche Canceln hat ihm also nicht geschadet. Dennoch entschlossen sich 26 von 53 mitwirkenden Akteur*innen, ihre Videoclips von der Webseite der Kampagne zu entfernen.
Auch YouTube und Google reagierten als besonders relevante Player des Internets auf die Kampagne und zeigten die besagten Videos in den Suchverläufen nicht mehr im oberen Bereich an. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob die Gesellschaft die Fähigkeit verloren hat, einen öffentlichen und deliberativen Diskurs mit Rede und Gegenrede auszuhalten.
Fazit: Cancel Culture – nützlich oder kontraproduktiv?
Der systematische Boykott von Meinungen ist also keine Erfindung des digitalen Zeitalters, lediglich der Begriff „Cancel Culture“ ist neu. Allerdings tragen soziale Netzwerke, auf Algorithmen basierende Suchmaschinen und fehlende Regulierungen der Intermediäre dazu bei, dass Cancel Culture zu einem politischen Kampfbegriff mit großer Wirkung geworden ist. Diskriminierenden und diffamierenden Aussagen zu widersprechen ist unabdingbar. Allerdings sollten verschiedene Meinungen innerhalb eines Diskurses zulässig und diskutabel sein. Das setzt voraus, dass Canceln nicht als Instrument zum gezielten Angriff und zur Zerstörung von Personen missbraucht wird.