Kollektiver Kuschelentzug

Sich nah sein, ohne sich zu nahezukommen. Das ist das Gebot der Stunde. Doch was macht das mit unserer Psyche, wenn uns andauernd zwei Armlängen zu einer Umarmung fehlen?

Illustration: Paula Hoyer
Von Paula Hoyer

Lässiger Fuß-Check, kurzer Ellenbogengruß oder herzliche „Luftumarmung“. Alles ist besser als Körperkontakt – also infektionstechnisch gesehen. Und so sind Händedruck und innige Umarmung weitgehend aus unserem Alltag verschwunden. 

 „Wir kennen Zuwendung als körperliche Nähe oder Berührung. Doch im (…) Moment ist nur Abstand Ausdruck von Fürsorge“

So appellierte Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits im März 2020. Die Fernsehansprache ist nun ein Jahr her und so lange leben wir nun mit Kontaktbeschränkungen. Was auf der einen Seite sinnvoll ist, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, wirkt sich auf der anderen Seite negativ auf unsere psychische Gesundheit aus. Wie können wir trotzdem Nähe herstellen, ohne uns und andere zu gefährden? Was können wir tun, wenn wir uns einsam fühlen? Welche Alternativen gibt es zur klassischen Umarmung? Zwei Psychologinnen und eine Coachin geben Ratschläge.

Berührungen sind lebenswichtig

Erfahren wir eine Berührung, die wir als angenehm empfinden, schüttet unser Körper viele Glückshormone wie das „Kuschelhormon“ Oxytocin und den Belohnungs-Botenstoff Dopamin aus. Das baut Stresshormone ab und ist ein natürlicher Booster für unser Immunsystem.

„Der Mensch hat sich evolutionär in und durch soziale Gruppen entwickelt. Ein natürlicher Bestandteil der Gruppenkommunikation war und ist die Körperinteraktion“, sagt Haptikforscher Professor Martin Grunwald von der Universität Leipzig. In der frühen Kindheit seien Berührungen die einzige Garantie für eine gesunde und stabile Kindesentwicklung. Fehlen solche Körperreize, dann kann das zum Tod des Kindes führen, so Grunwald. Berührungen sind für den Menschen also lebenswichtig. Auch bei Erwachsenen wird fehlender zwischenmenschlicher Körperkontakt über einen längeren Zeitraum zu psychischen und körperlichen Krankheiten führen, warnt Grunwald.

Besonders junge Menschen leiden am Berührungsmangel

Merle Fairhurst, Professorin für biologische Psychologie, startete in Zusammenarbeit mit der LMU München und der Liverpool John Moores University im Mai vergangenen Jahres eine Studie, die die Auswirkungen der Selbstisolation in der Corona-Krise untersucht. Die Forscher*innen wollten herausfinden, welche Folgen fehlende Berührungen auf unser psychisches Wohlbefinden haben.

„85 Prozent unserer Befragten sagen, dass sie weniger körperlichen Kontakt bekommen als sie wollen. Unsere Daten zeigen, dass dieser ,Hunger‘ nach Berührung jedoch spezifisch für Familienmitglieder ist. Wir vermeiden tatsächlich aktiv die Berührung durch einen Fremden, vermutlich aufgrund des wahrgenommenen Risikos für unsere Gesundheit. Diejenigen, denen die Berührung fehlt, sind einsamer und diejenigen, die sich weniger mit anderen verbunden fühlen, sind gestresster und depressiver“, fasst die Psychologin die Ergebnisse zusammen.

Merle Fairhust, Professorin für biologische Psychologie – Credits: Universität der Bundeswehr

Fairhurst und ihr Team testeten Menschen von 15 bis 76 Jahren und stellten dabei einen signifikanten Unterschied fest: Jüngere Menschen leiden am stärksten unter den Auswirkungen der Selbstisolation. „Sie fühlen sich einsamer, depressiver und lethargischer“, sagt die Psychologin. Das könnte daran liegen, dass jüngere Menschen vor Corona eher an häufigeren sozialen Kontakt gewöhnt waren und daher Erwartungen haben, die nicht erfüllt werden, so Fairhursts Hypothese.

Nicht jedem fehlen die Berührungen

„Wir dürfen nicht vergessen, dass manche Menschen sehr erfreut sind, andere Menschen nicht berühren zu müssen“, betont Fairhurst. Welche Berührung als angenehm empfunden wird, ist sehr individuell. Einige Menschen erleben etwa im Berufsalltag Berührungen, die sie als Belästigung empfinden, etwa wenn ihnen ein Kollege über den Rücken streicht. Dass solche vermeintlichen Alltagsberührungen nun in der Regel fehlen, erleichtert so manchen. Trotzdem: „Aus unserer Stichprobe geht hervor, dass sich 15 Prozent der Befragten immer noch zu oft berührt fühlen“, sagt die Psychologin.

Wie wir trotz Corona Nähe herstellen können

Für alle, die jedoch unter den fehlenden Berührungen leiden, hat Carolyn Ellis eine kreative Lösung gefunden. Die Kanadierin entwickelte eine „Umarmungsfolie“. Die Plastikfolie mit Einkerbungen für die Arme erlaubt Umarmungen ohne direkten Hautkontakt. Eine weitere Möglichkeit: Bäume umarmen. Das empfiehlt zumindest der isländische Forstservice. 

Psychologin Fairhurst erklärt: „Glücklicherweise haben wir biologisch viele Möglichkeiten, denselben chemischen Cocktail zu stimulieren, der bei einer Umarmung ausgelöst wird.“ Auch Körperpflege, Essen und Sport können Cortisol verringern, Stress reduzieren und das Glücks- und Kuschelhormon Oxytocin erhöhen. Digital Nähe herzustellen sei ebenfalls möglich, etwa durch einen Videocall mit Freunden. Doch ein absoluter Ersatz für echte Berührungen sei das nicht, so die Psychologin: „Die Frage, ob das auch langfristig gut geht, ist noch offen. Wie nachhaltig sind Alternativen wie Essen, Sport und Körperpflege?“

Stell dir vor, du wirst umarmt!

Beate Ditzen, Professorin für Medizinische Psychologie an der Universität Heidelberg sagt: „Wir gehen davon aus, dass nicht nur die physikalischen Eigenschaften von Berührungen die positive Wirkung erzeugen, sondern vor allem das, was wir der Berührung zuschreiben.“

Psychologin Beate Ditzen – Credits: Privat

Die Psychologin zitiert Studien, die zeigen: Personen reagieren bei Berührung mit einer reduzierten Angstreaktion des Gehirns. Dieser Effekt sei besonders stark, wenn wir die Berührung einer vertrauten Person, etwa unserer/m Partner*in, zuschreiben. Die angstlindernde Wirkung trat auch dann ein, wenn die Testpersonen nur davon ausgingen, dass es ihr/e Partner*in war, der/die sie berührte. Die positiven Effekte einer Umarmung sind demnach zu einem großen Teil davon abhängig, welche Bedeutung wir der Berührung beimessen.

„Diese Zuschreibung, also gedankliche und emotionale Nähe, können wir digital natürlich auch herstellen, etwa über einen Videocall“, sagt Ditzen. Allerdings sei der Effekt trotzdem nicht so stark wie bei tatsächlichem Hautkontakt.

Die Psychologin geht davon aus, dass die wahrgenommene Einsamkeit einen stärkeren negativen Effekt auf unsere Gesundheit hat als die fehlende physische Berührung. Was können wir nun gegen das Gefühl von Einsamkeit tun? „Es hilft, die Stimme von jemandem zu hören und uns eine Umarmung vorzustellen“, empfiehlt Ditzen. „So können wir auf die Lernerfahrung von Berührung zurückgreifen und das ‚als ob‘ empfinden“.

Alleinsein als Chance

Körper-Gestalt-Coachin Claudia Schnackenberg stellt immer wieder fest, wie stark einige ihrer Klient*innen unter den Kontaktbeschränkungen leiden. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Lena Kuhlmann leitet sie das YOMIO-Zentrum für psychologische Körpertherapie in Hamburg. „Insbesondere für Singles sind die starken Kontaktbeschränkungen sehr herausfordernd. Viele sind jetzt plötzlich auf sich selbst gestellt und fragen sich: Was fange ich mit der ganzen Zeit an?“, berichtet die Coachin. Ihr Ratschlag: Die Zeit nutzen, um sich selbst Gutes zu tun und Selbstliebe zu praktizieren. Das kann für jede*n anders aussehen. Einige Anregungen der Coachin: sich selbst Berührungen schenken – etwa durch das achtsame Eincremen des eigenen Körpers –, in Bewegung bleiben, Yoga machen, auf die Ernährung achten, den Kaffee am Morgen ganz bewusst genießen oder ein gutes Buch lesen. 

„Corona zeigt uns, wie wichtig es ist, sich um sich selbst zu kümmern. Denn jeder, der keine gute Beziehung zu sich selbst pflegt, hat jetzt besonders starke Schwierigkeiten“, erklärt die Coachin. Insbesondere Menschen, die sich zurzeit einsam fühlen, könnten diese Zeit als Chance sehen, sich mit ihren persönlichen Themen und Herausforderungen auseinanderzusetzen. Das Gefühl von Einsamkeit ist nicht zu verwechseln mit Alleinsein. Denn auch in Gesellschaft anderer Menschen können wir uns einsam fühlen.

Die Coachin rät: „Statt Ablenkungen hinterherzulaufen oder Ersatzhandlungen zu suchen, sollten wir die Zeit nutzen, um mehr mit unseren Emotionen in Kontakt zu kommen.“ Wenn uns negative Gefühle überkommen, helfe es, diese erst einmal bewusst im Körper wahrzunehmen, sich selbst zu fragen: Wo genau fühle ich das in meinem Körper? Die Emotionen zuzulassen, statt sie zu verdrängen.

Körper-Gestalt-Coachin Claudia Schnackenberg -Credits: Yomio

„Wir wollen uns immer gut fühlen. Stattdessen sollten wir akzeptieren, was wir nicht ändern können“, meint Schnackenberg. Veränderungen können Ängste schüren. „Frage dich: Wieso macht mir das so viel Angst?“, empfiehlt Schnackenberg. „Konzentriere dich lieber darauf, welche Chance dir diese Veränderungen bieten kann“, betont die Coachin. 

Hast du schon einen „Knuffelcontact“?

Und bis wir wieder bedenkenlos alle unseren Liebsten in die Arme schließen können, haben wir die Möglichkeit, die Menschen, mit denen wir zusammenleben, umso öfter zu umarmen. „Qualität statt Quantität“, lautet auch das derzeitige Motto bei Familie Fairhurst. „Meine Kinder und ich konzentrieren uns mehr auf die Art der Berührung, darauf, wie angenehm sie ist und wie wir berührt werden wollen. Wenn ich zurzeit das Glück habe, eine Umarmung zu erfahren, bleibe ich wirklich im Moment und genieße es besonders.“ 

Und was können Alleinlebende machen? Sich einen „Knuffelcontact“ suchen! Der Begriff geht auf die Corona-Regelung in Belgien zurück, die erlaubt, dass man sich mit einer Person außerhalb des eigenen Haushalts ohne Abstandsregeln treffen darf. Demnach sind auch Umarmungen und alle anderen physischen Kontakte erlaubt. Die Bezeichnung „Knuffelcontact“ wurde in Flandern, dem niederländischen Teil von Belgien, sogar zum Wort des Jahres 2020 gewählt. 

Neuer Eintrag zur Pandemie: „knuffelcontact“ im Urban Dictionary

Müssen wir das Umarmen nach Corona erst wieder erlernen?

„We will hug again“ heißt eine erfolgreiche Kampagne von Zalando. Der Slogan klingt hoffnungsvoll. Doch wie wird es sein, wenn es so weit ist? Müssen wir Umarmen erst wieder erlernen?

Wird es nach der Pandemie Rituale wie das Händeschütteln überhaupt noch geben? Oder werden wir in der Zukunft andere Begrüßungsformen entwickeln? Die Medizinpsychologin Beate Ditzen hält das für möglich: „Ich kann mir schon vorstellen, dass wir Berührungen ein bisschen verlernen. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass Berührung als Sicherheitssignal im Gehirn repräsentiert wird. Nun lautet die große Frage: Was passiert jetzt mit Berührungen außerhalb des eigenen Haushalts? Werden diese nach wie vor als Sicherheitssignal wahrgenommen? Ich vermute nicht, oder zumindest viel weniger, denn eigentlich bergen sie jetzt eine potenzielle Ansteckungsgefahr. Sie sind nicht mehr gesundheitsfördernd, sondern möglicherweise gefährlich. Werden wir eine Stressantwort ausbilden, wenn uns jemand auf der Straße berührt?“ Diese Fragen sind noch offen.

„We will hug again“ – Imagefilm von Zalando 2020

Die Bio-Psychologin Merle Fairhurst vermutet, dass die Angst vor gesundheitlichen Gefahren, die derzeit von Nähe und Berührungen ausgehen kann, über die Dauer der Pandemie hinaus anhalten wird. „Doch sobald die Gefahr wieder weg ist, sobald wir uns wieder ganz sicher fühlen, wird es wieder normal“, ist Fairhurst überzeugt und fügt hinzu: „Ich glaube, das Händeschütteln ist nur eine der Möglichkeiten, wie wir einen sozialen Austausch initiieren können. Eine andere ist Augenkontakt. Ich hoffe, dass, wenn wir nicht in der Lage sind, Berührungen zu verwenden, wir andere Wege finden werden, um zu sagen: ‚Ich bin bereit, zuzuhören‘. Vielleicht sind wir sogar sensibler dafür, ob jemand bereit und willig ist, sich auf eine soziale Interaktion einzulassen.“ 



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