Abdul Rahim al-Hwaiti steht vor einer hellen Wand. In einer Hand hält er eine Kamera, wahrscheinlich die eines Smartphones. Über ihm steht die Sonne hoch am Himmel. Mit einer ruhigen Stimme fängt er an zu reden. Etwa zwölf Minuten geht das Video, zwölf Minuten voll von Vorwürfen gegen das saudi-arabische Regime. Von Zwangsumsiedlungen und “Regierungsterrorismus” ist die Rede. Am Ende des Videos äußert er wie in einer Vorahnung den Verdacht, dass das Regime versuchen könnte ihn umzubringen. Wahrscheinlich würden sie eine Waffe bei ihm platzieren und behaupten, er hätte Gegenwehr geleistet, sagt al-Hwaiti. Seine Stimme bleibt ruhig. Der Tod sei ihm lieber als seine Heimat zu verlieren. Noch am selben Tag bestätigt sich seine Vorahnung. Saudische Sicherheitskräfte stürmen sein Wohnhaus – al-Hwaiti filmt. Es wird sein letztes Video gewesen sein. Von offizieller Seite heißt es, er hätte das Feuer auf die Sicherheitskräfte eröffnet.
Megacity in der Wüste
Der Grund warum al-Hwaiti und andere Aktivist*innen in Saudi-Arabien aktiv geworden sind, lautet NEOM. NEOM ist der Name einer Planstadt und Wirtschaftszone, die im Nordosten des Landes, an der Küste des Roten Meeres, gebaut wird. Das Projekt soll eine Fläche von 26.500 Quadratkilometern umfassen und schätzungsweise 500 Milliarden Dollar kosten. Zum Vergleich: Das Bundesland Rheinland-Pfalz ist 19.846 Quadratkilometer groß.
Die Stadt und das umliegende Land sollen nach eigenen Angaben vollständig durch erneuerbare Energien mit Strom versorgt werden. Selbst eigene Gesetze, die von der strengen Scharia-Gesetzgebung des restlichen Königreiches abweichen, sind für die Zone vorgesehen. Dazu passend: der Name, der eine Zusammensetzung aus dem griechischen Wort für “neu” und einer Abkürzung des arabischen Begriffes für “Zukunft” darstellt. Digitalisierung steht im Zentrum des Projekts. Dienstleistungen sollen automatisch von Robotern durchgeführt werden, Holografische Lehrer sollen unterrichten und sowieso jeder Bürger vernetzt sein.
“Everything will have a link to artificial intelligence, to the Internet of Things – everything. Your medical file will be connected with your home supply, with your car, linked to your family, linked to your other files, and the system develops itself in how to provide you with better things.”
Mohammed bin Salman
Diese Worte stammen von Mohammed bin Salman (MBS), dem saudi-arabischen Kronprinzen, der das Projekt hauptsächlich vorantreibt. Es ist Teil seiner “Vision 2030”, die die Wirtschaft des Landes weniger abhängig vom Exportgut Öl machen soll. MBS ist international vor allem durch Reformen aufgefallen, die zu einer teilweisen Liberalisierung innerhalb der saudischen Gesellschaft geführt haben. In den letzten Jahren sah er sich jedoch auch zunehmend Kritik seitens Menschenrechtsorganisationen und ausländischen Regierungen ausgesetzt. Beispielsweise für seine Militäroffensive im Jemen, sowie die Tötung und Inhaftierung von Dissidenten.
“It’s being built on our blood”
Das angeblich unbewohnte und “jungfräuliche” Land, auf dem die Stadt gebaut wird, ist keineswegs unbewohnt, sondern seit Jahrhunderten die Heimat des Howeitat-Stammes. Ursprünglich einer nomadischen Lebensweise verschrieben, ließen sich Mitglieder des Stammes, der auch in Jordanien und palästinensischen Gebieten präsent ist, in Siedlungen auf dem Gebiet nieder. Als das Projekt 2017 angekündigt wurde, waren die Hoffnungen der Anwohner noch groß. Die Aussicht auf Arbeitsplätze und wirtschaftliche Entwicklung wusste zu überzeugen. Die Pläne MBS’ umfassten die Anwohner der Region jedoch nicht. Anfang des Jahres begannen die Aufforderungen, dass eben jene ihre Heimat gegen eine Kompensation verlassen und sich umsiedeln lassen sollten. Die Einwohner wehrten sich und die Situation eskalierte. Seitdem wurden zahlreiche Mitglieder des Stammes verhaftet, unter Zwang umgesiedelt oder getötet. Zahlen von bis zu 20.000 Umsiedlungen – oder mehr – stehen im Raum.
Abdul Rahim al-Hwaiti war Mitglied dieses Stammes und einer der Aktivist*innen, die sich gegen die Zwangsumsiedlungen durch die saudische Regierung wehrten. Er bezahlte am 13. April 2020 dafür mit seinem Leben. Alya Abutayah Alhwaiti, eine in London lebende Aktivistin, berichtete von Todesdrohungen, die sie über Twitter und in einem Telefongespräch erhalten habe. Dem “Guardian” sagte sie in einem Interview: “Neom is being built on our blood, on our bones […].” Nach eigenen Angaben wurde ihr dasselbe Schicksal wie Jamal Khashoggi angedroht. Khashoggi, ein saudi-arabischer Dissident, der unter anderem als Kolumnist für die amerikanische “Wahsington Post” schrieb, wurde am 2. Oktober 2018 von Agenten im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul ermordet. Später tauchten Beweise auf, die die Ermordung direkt mit MBS in Verbindung brachten.
Deutschland und Saudi-Arabien – Ganz vorne mit dabei
Mittendrin in alledem: ein Deutscher. Klaus Kleinfeld wurde Ende 2017 vom saudi-arabischen Kronprinzen als Leiter des Großprojektes verpflichtet. Kleinfeld, ein international tätiger Manager, leitete von 2005 bis 2007 als CEO den Siemens-Konzern, bevor er diesen, vor allem im Zuge einer Korruptionsaffäre, verlassen musste. Von 2008 bis 2016 war er CEO des amerikanischen Aluminiumkonzerns Alcoa, aus dem er, aufgrund von Auseinandersetzungen mit einem großen Investor, entlassen wurde. 2017 wechselte er nach Saudi-Arabien, um dort der Entwicklung von NEOM vorzustehen. Kleinfeld nimmt mittlerweile die Rolle eines persönlichen Beraters für den Kronprinzen wahr und steht diesem damit ausgesprochen nahe. Auch die Ermordung Jamal Khashoggis, die aller Wahrscheinlichkeit nach von seinem Arbeitgeber angeordnet worden war, scheint an seinem Arbeitsverhältnis nichts geändert zu haben. Ein Sprecher Kleinfelds sagte in einem Statement gegenüber der BILD-Zeitung, dass Kleinfeld eine klare Meinung zum Fall Kashoggi habe und diese auch ausgedrückt habe. Weiter heißt es, dass im Gespräch vor Ort mehr erreicht werden könne als durch „symbolische Abwesenheit” und, dass dazu „[… ] auch mehr Rückgrat dazu[gehöre].“
Kleinfeld ist in seiner Unterstützung des saudischen Königshauses jedoch nicht allein. Zwar sagten im Wesentlichen alle bedeutenden internationalen Industrievertreter ihre Teilnahme an der Investorenkonferenz “Future Investment Initiative (FII)” in Riad nach dem Tod von Khahsoggi ab, im Falle des heutigen Siemens Chefs Joe Kaeser geschah dies jedoch recht zögerlich. Und auch an der ersten Konferenz, ein Jahr zuvor, nahmen eine Vielzahl an Persönlichkeiten der internationalen Wirtschaft teil, obwohl der saudischen Regierung auch zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden. Diese erste Ausgabe der FII war es auch, in deren Rahmen das Projekt NEOM angekündigt worden war.
Vor allem die deutsche Rüstungsindustrie ist seit Jahren in der Region verwickelt und liefert Kriegswaffen an Staaten mit kritischer Menschenrechtslage wie etwa Saudi-Arabien. Das finanzielle Volumen der genehmigten Ausfuhren seit 2010 beläuft sich dabei auf mehrere Milliarden Euro. 2019 und auch im bisherigen Verlauf von 2020, wurden als Reaktion auf den Fall Khahsoggi keine weiteren Ausfuhrgenehmigungen für Kriegswaffen mehr erteilt. Jedoch finden sich auf den Listen für Ausfuhrgenehmigungen Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder Ägypten, die beide Teil der von Saudi-Arabien geführten Koalition sind, die Krieg im Jemen führt. Durch die Militäroffensive Saudi-Arabiens wurde die sowieso schon kritische Lage, in dem von Bürgerkrieg zerrissenen Land, weiter verschärft. Unicef bezeichnet die Situation vor Ort als die größte humanitäre Krise der Welt, die Millionen Menschen an den Rand des Verhungerns treiben könnte. Tausende Zivilist*innen sind bereits durch die Bombenangriffe der Koalition ums Leben gekommen. Exporte an Länder, die an diesem Krieg unmittelbar beteiligt sind, wurden im Koalitionsvertrag eigentlich ausgeschlossen, werden seit Jahren aber dennoch genehmigt. Ägypten rangiert für das Jahr 2019 auf Platz zwei der Länder, für die Genehmigungen ausgestellt wurden und nimmt auch sonst in den letzten Jahren meist einen Platz unter den Top 10 ein. Dasselbe gilt für die Vereinigten Arabischen Emirate.
Finanzierung auf wackeligen Beinen
Einen Aufschrei gab es Mitte des Jahres in der E-Sport-Community, als sowohl “Riot Games”, der Entwickler hinter dem Videospiel “League of Legends”, als auch “BLAST Premier”, ein Tournament-Organizer für Counter-Strike Events, eine Partnerschaft mit NEOM ankündigten. Eine der Kommentatoren der “League European Championship (LEC)”, der europäischen “Bundesliga” für das Spiel League of Legends, ist offen lesbisch. Auch die Liga selbst betonte immer wieder ihre Unterstützung für die LGBTQI+-Community. So führte der offizielle Twitter-Account, über den die geplante Sponsorenschaft angekündigt wurde, zur Zeit der Ankündigung ein Profilbild mit Pride-Logo. Und auch BLAST hatte sich wenig zuvor für eine offene und integrative Community ausgesprochen. Starker Gegenwind, sowohl seitens der Zuschauer*innen als auch der Mitarbeiter*innen der LEC, veranlassten Riot-Games dazu, die Partnerschaft nach etwa 16 Stunden wieder aufzukündigen und sich zu entschuldigen. Blast brauchte für diesen Schritt einige Wochen.
Bereits vorher bemühte sich Saudi-Arabien um mehr Aufmerksamkeit aus dem E-Sport, auch das ein Teil der „Vision 2030“. Schon Ende 2019 veranstaltete Riot Games ein Turnier mit einem Preisgeld von 850.000$ in Riyadh. Und auch Blastpremier gaben in ihrer Pressemitteilung zum Sponsorship-Deal an, NEOM bei der Entwicklung des E-Sport im Rahmen der Partnerschaft aktiv unterstützen zu wollen. Die Absage der beiden Firmen könnte das Projekt empfindlich treffen. Das Projekt leider ohnehin schon unter einer unsicheren Finanzierung.
Die Corona-Pandemie traf die saudi-arabische Wirtschaft hart. Der sowieso schon niedrige Ölpreis brach weiter ein und riss ein milliardenschweres Loch in den Haushalt des Königreiches, das stark von seinem Exportgut Nummer 1 abhängig ist. Als Reaktion darauf musste die Mehrwertsteuer von 5% auf 15% verdreifacht und Staatsausgaben reduziert werden. Auch die Umsetzung von NEOM wurde durch die Pandemie zumindest verlangsamt, wie David Rundell, ein ehemaliger US-Diplomat für Saudi-Arabien, dem „Business Insider“ mitteilte. Dennoch werde man in Saudi-Arabien alles tun um das Projekt weiter voranzutreiben, da die politische Zukunft MBS’ zu nicht unwesentlichen Teilen am Erfolg seiner Vision 2030 hänge, sagt Rundell.
Das Land ohne Menschenrechte
Unter anderem rührt die starke Reaktion der Digitalen Community daher, dass die Rechte von Mitgliedern der LGBTQI+-Community in Saudi-Arabien mit Füßen getreten werden, beziehungsweise schlicht nicht existieren. Homosexualität ist eine Straftat, die mit Gefängnisstrafen, Folter, oder sogar dem Tod bestraft werden kann. Homo- und transsexuelle Personen werden in dem Land kriminalisiert und verfolgt.
Auch Meinungs- und Pressefreiheit existieren in dem Land, das auf dem Democracy-index der britischen Zeitschrift “The Economist” auf Platz 159 von 167 geführt wird, nicht. Reporter ohne Grenzen stuft Saudi-Arabien in Hinblick auf seine Pressefreiheit auf Rang 170 von 180 ein und hält fest, dass sich die Repressalien des Staates seit der Machtübernahme Mohammed bin Salmans im Jahr 2017 noch weiter verschärft haben. Dissidenten, wie Jamal Khahsoggi, und Menschenrechtsaktivist*innen werden verfolgt, das öffentliche Ausüben anderer Religionen, außer dem Islam, ist verboten.
Die Anwendung der Todesstrafe ist in Saudi-Arabien in der jüngeren Vergangenheit stetig gestiegen und erreichte mit 184 hingerichteten Personen im letzten Jahr einen traurigen Rekordwert. Am 23. April 2019 wurden im Rahmen einer Massenexekution allein 37 Männer auf Grund des Vorwurfs “terroristischer Verbrechen” hingerichtet. Einer der Hingerichteten war zum Zeitpunkt seiner angeblichen Tat erst 16 Jahre alt. Wenigstens 14 der Männer wurden im Rahmen von gewaltsamen Protesten gegen das Regime, die in den Jahren 2011-2012 stattfanden, festgenommen. Ein Großteil der Angeklagten gehörte der Schia-Minorität an, die seit Jahrzehnten diskriminiert und als Bürger zweiter Klasse behandelt wird. Das Verfahren, in dem auch Folter eingesetzt wurde, wurde unter anderem von Amnesty International als undurchsichtig und unfair beschrieben.
Hoffnung auf Veränderung
Mit der Verabschiedung eines Reformpaketes im August 2019 wurden erste Schritte unternommen die Stellung von Frauen zu verbessern. Die Reformen gestatten es Frauen unter anderem einen Reisepass zu erhalten und so, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormundes zu reisen. Ebenso sind sie in Hinblick auf die Führung des Haushaltes rechtlich mit Männern gleichgestellt und in der Lage zu studieren sowie sich ihren Arbeitsplatz selbst auszusuchen. Auto fahren dürfen Frauen seit 2018. Saudi-Arabien war zuvor das letzte Land mit einem Fahrverbot für Frauen.
Abgeschafft wird das strenge Vormundschaftssystem, das männlichen Angehörigen weitreichende Kontrolle gewährt, dadurch jedoch nicht. Es wurde Frauen mittlerweile rechtlich eingeräumt, ohne männliche Begleitung am öffentlichen Leben teilzunehmen und beispielsweise Stadien aufzusuchen. Veranstaltungen in der Universität bleiben jedoch nach wie vor nach Geschlechtern getrennt. Und auch wenn das Tragen der schwarzen Abaya und des Kopftuches freiwillig geworden ist, sofern auf ein “angemessenes” Äußeres geachtet wird, sehen sich Frauen, die von diesem Recht Gebrauch machen, Anfeindungen gegenübergestellt. Auch müssen sie immer noch die Erlaubnis eines männlichen Vormundes einholen, wenn sie heiraten möchten.
Seit Mitte 2018 sind mehrere saudi-arabische Frauenrechtsaktivistinnen im Gefängnis Dhahban inhaftiert. Der Vorwurf an die Frauen, die sich in friedlichem Protest gegen das Regime übten: Spionage, Verrat und ähnliche Anschuldigungen. Unter den Inhaftierten befinden sich unter anderem Samar Badawi, die 2012 den “International Women of Courage Award” verliehen bekam, und deren Bruder, Raif Badawi, ebenfalls inhaftiert, sowie Loujain al-Hathloul, die auf Platz 3 der “Top 100 Most Powerful Arab Women 2015” gewählt wurde. Sie und schätzungsweise mehr als 30 prominente Aktivist*innen sitzen seit Jahren in saudi-arabischen Gefängnissen ein. Ein Sinnbild dafür, dass das Land trotz langsamer Reformen zu den unfreisten Staaten der Welt zählt. Ende 2018 äußerte Amnesty International schwere Foltervorwürfe. Nach Zeugenaussagen sollen die inhaftierten Aktivist*innen sexuell misshandelt und unter anderem mit Elektroschocks so übel zugerichtet worden sein, dass sie kaum noch in der Lage waren zu stehen. Eine der Aktivistinnen soll versucht haben, sich das Leben zu nehmen.
Der Blick in die Zukunft
Die heftige Reaktion der Digitalen Community auf die angekündigten Sponsorships des Projekts werfen einen Schatten auf die so glanzvoll präsentierte Zukunft von NEOM. Das Bauprojekt stieß damit auf direkten Widerstand außerhalb Saudi-Arabiens. Auch deutsche Waffenexporte in das Land sind immer noch ausgesetzt und verdeutlichen eine zuletzt harte Haltung der Bundesregierung.
Es bleibt abzuwarten, wie der weitere Verlauf des Projektes aussehen wird und welche Rolle die internationale Gemeinschaft dabei auch durch das Internet spielen kann. Es erscheint nicht undenkbar, dass es bei dem einmaligen Sturm der Entrüstung bleibt, den wir bisher gesehen haben. Denn trotz der Rückschläge scheint die Umsetzung von NEOM, die planmäßig 2025 abgeschlossen ein soll, weiter voranzuschreiten. Zuletzt wurden Aufträge im Bereich mehrerer hundert Millionen Dollar vergeben, welche unterstreichen, dass das Projekt die höchste Priorität genießt.