Sophia, wie kommt man dazu, als freie Korrespondentin aus Chile zu berichten?
Ich bin gar nicht nach Chile gekommen, um Journalistin zu werden. Nach meinem Auslandssemester bin ich hiergeblieben, weil ich mich hier als Mensch wohlgefühlt und eine Verbindung zu den Leuten aufgebaut habe. Das hat auch weniger damit zu tun, dass ich alles hier total schön finde. Ich habe von Anfang an gesehen, dass es hier viele Probleme gibt, aber ich habe mich immer mit Leuten umgeben, die daran etwas ändern wollten. Das hat mir in Deutschland etwas gefehlt. Ich weiß noch, wie in meiner ersten WG eine Dartscheibe mit dem Gesicht von Piñera (chilenischer Präsident, Anm. d. Red.) in der Küche hing. Ich dachte mir nur: Was muss hier passiert sein, dass die Leute Dartpfeile auf das Gesicht ihres Präsidenten werfen? Das hat mich alles so bewegt, dass ich mir dachte, ich kann jetzt nicht nach einem halben Jahr wieder nach Deutschland gehen.
Du bist geblieben, wie auch der Veränderungswillen und die Wut der Chilen*innen. Diese explosive Gemengelage hat sich dann im Oktober 2019 in Massenprotesten und Aufständen entladen. Was hat sich seitdem für dich verändert?
Bis dahin hatte ich immer ein großes Projekt, an dem ich circa einen Monat gearbeitet und das Material dann für mehrere Medien angeboten habe. Ab dem 18. Oktober hat bei mir jeden Tag das Telefon geklingelt und ich wurde von allen möglichen Medien angefragt. Dauernd meldeten sich Leute und sagten: ‚Hey Sophia, kannst du bitte bis morgen früh um sieben Uhr was zu den Protesten machen‘. Allein in der ersten Woche habe ich fast 20 Artikel geschrieben. Ich habe noch nie so viel gearbeitet – und auch fast nicht geschlafen. Das war hart, zumal die Ereignisse rund um die Aufstände auch nicht spurlos an einem vorbei gehen.
Während bei den Demonstrationen im ganzen Land tagtäglich Leute sterben oder verletzt werden, bedeuten die Proteste für dich Arbeit. Das birgt viel Potential für einen moralischen Konflikt.
Die Frage stelle ich mir andauernd. Ich lebe hier und habe eine enge Beziehung zu den Menschen, so dass ich mich nicht nur als Beobachterin, sondern auch als Teilnehmerin der Proteste sehe.
Wärst du denn gerne öfter ausschließlich als Demonstrantin auf den Protesten gewesen?
Ja. Ich meine, ich habe öfter mal Kamera und Mikro zu Hause gelassen und bin auf die Proteste gegangen, um Eindrücke, Gefühle und Geräusche aufzusaugen. Auch aus journalistischer Sicht ist das wiederum wichtig. Aber meist habe ich dann doch wieder O-Töne genommen, einfach um zu sehen, wie sich die Stimmung Tag für Tag verändert.
Mit was für Gefühlen gehst du denn, ganz unabhängig ob beruflich oder privat, auf eine Demonstration in Santiago?
Es ist eine Mischung aus allem. Angst, bevor du hingehst. Freude, wenn du da bist und den Optimismus der Leute spürst. Aber auch Verzweiflung, wenn du siehst, was für schlimme Dinge tagtäglich auf den Straßen passieren.
Gemischte Gefühle – das Stichwort, um die Frage von vorhin nochmal aufzugreifen. Unrecht und menschliches Leid auf der einen, Geldsegen auf der anderen Seite. Wie gehst du damit in deiner Arbeit als Journalistin um?
Ich habe meine Arbeit anfangs nicht in Frage gestellt, denn ich wollte den Leuten in Deutschland zeigen was hier los ist. Aber dann bekam ich zunehmend Nachrichten von Familie und Freunden aus Deutschland, die überhaupt nicht verstanden haben, was hier passiert und sich für mich gefreut haben, dass ich viel zu tun habe und mich beruflich weiterentwickeln kann. Das hat mich total getroffen. Ich mache das ja nicht aus Karrieregründen, sondern aus Überzeugung und meinem vielleicht sehr ausgeprägten idealistischen Gerechtigkeitssinn. Zumal ich davon auch nicht reich geworden bin, meine Honorare waren nie besonders hoch. Zweifel bleiben aber. Ist das okay, was ich mache? Nutze ich die Situation aus? Alle meine Freunde hier haben mir dann immer gesagt, dass es wichtig ist, dass all das Unrecht, das hier passiert öffentlich gemacht wird. Ich bin eine der wenigen Korrespondentinnen hier, sonst schreibt niemand über die Menschenrechtsverletzungen oder darüber, dass es auch Leute gibt, die sich organisieren und politische Ziele formulieren. Es macht mir manchmal schon wieder Angst, dass ich so ein Informationsmonopol habe.
Credits: Lukas Kaldenhoff
Du hast es angesprochen: Neben dir gibt es nur einige wenige freie Journalist*innen aus dem Ausland, die in Chile leben, aus dem Land berichten und somit dann in ausländischen Medien das Bild von dem prägen, was hier passiert. Wenn du die Gefahr eines solchen Informationsmonopols siehst, beeinflusst das auch die Art und Weise, wie du über die Proteste in Chile berichtest?
Ich denke da auch öfter mal drüber nach und sehe natürlich auch die Verantwortung, die das mit sich bringt. Aber man darf nicht vergessen, dass es ja auch noch die ganzen Presseagenturen gibt, deren Meldungen seit Oktober um die Welt gehen und sicher einen Großteil der Berichterstattung über Chile ausmachen. Und da bin ich immer wieder schockiert, wie oft nur die Gewalt der Demonstranten thematisiert wird. Die Meldungen werden teilweise von Leuten geschrieben, die gar nicht vor Ort sind. Da wird dann das Bild einer verrückten Meute gezeichnet, die überhaupt nicht weiß, was sie will. Mein Eindruck ist ein völlig anderer. Die Leute wissen genau, was in diesem Land schiefläuft und wofür sie auf die Straße gehen. Aber um das zu erfahren, muss man mit ihnen reden. Daher sehe ich meine Berichterstattung eher als Gegenpol zum Monopol der Presseagenturen.
Das klingt aber auch so, als hätten deine Beiträge einen gewissen thematischen Frame. Logisch, du bist mittendrin und somit von den Protesten, aber auch anderen gesellschaftlichen Prozessen in Chile unmittelbar betroffen. Ohne das Fass der Objektivität aufmachen zu wollen, kannst du trotzdem unvoreingenommen berichten?
Nein, kann ich nicht. Ich würde das Fass aber gerne aufmachen. In meinen Augen gibt es keine hundertprozentige Objektivität, weil jeder Journalist, allein schon mit der Themenauswahl, mit der Gesprächspartnerauswahl, mit der Dramaturgie des Artikels subjektive Entscheidungen trifft. Oder auch die Schwerpunktsetzung. Ich fokussiere mich vor allem auf soziale Ungerechtigkeit, denn Journalismus ist für mich ein Werkzeug, um Leuten eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden würden und um soziale und politische Ungerechtigkeiten aufzudecken und sie in einen globalen Kontext zu setzen. Da geht es schon los, jeder Mensch definiert „Unrecht“ anders. Oder die einzelnen Zeitungen, die haben ja alle eine Färbung. Wenn die FAZ beispielsweise nur über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Proteste in Chile auf Deutschland schreibt, warum sollte ich dann nicht die Geschichten der Menschen hier erzählen dürfen?!
Im Dezember 2019 hast du dich auf Twitter beschwert, dass du nach der Entscheidung, dass es eine neue Verfassung geben wird, immer wieder Anfragen für Artikel über das Chile nach den Protesten bekommen hast. Dein Tweet schloss mit der Frage: „Was läuft eigentlich falsch in der internationalen Berichterstattung?“ Die Frage würde ich gerne an dich zurückgeben.
(lacht) Ja, das ist eine Katastrophe. Also, erst einmal gibt es eine internationale Nachrichtenhierarchie in deutschen Medien, was sich wiederum in Korrespondenten widerspiegelt. Du hast in jedem europäischen Land einen Korrespondenten. In Lateinamerika gibt es einen für den ganzen Kontinent, wenn überhaupt. Das spiegelt sich in der Qualität der Nachrichten wider. Wenn du für 16 Länder zuständig bist, kannst du ja gar nicht immer rumreisen und mit den Leuten vor Ort sprechen. Es reicht einfach nicht, im Büro zu sitzen und mit Agenturmeldungen zu arbeiten. Ich denke, deshalb sind freie Journalisten auch so wichtig, denn sie sind vor Ort und können vieles einfach besser einordnen.
Was schätzt du denn besonders an deiner Arbeit als freie Journalistin in Chile? Und mit welchen Risiken und Gefahren hast du zu kämpfen?
Ich schätze vor allem meine Freiheit. Wann, wo, wieviel, welches Thema – das kann ich mir selbst aussuchen. Das alles könnte ich als festes Mitglied einer Redaktion nicht. Gleichzeitig fände ich es wichtig, wenn freie Journalisten von den Redaktionen besser unterstützt werden würden, was die Arbeitsbedingungen, die Honorare, aber vor allem auch die Sicherheit angeht. Alle wollen immer die besten Geschichten haben, aber wie man da herankommt und welchen Gefahren man ausgesetzt ist, darum kümmert sich niemand. Und dann gibt es da aber auch ein Gender-Thema. Im Gegensatz zum Großteil meiner Kollegen bin ich jung und weiblich.
Wie äußert sich dieser strukturelle Sexismus, den du ansprichst, in deinem journalistischen Alltag?
Die meisten Auslandskorrespondenten sind Männer über 50. Und sie bekommen bei Beiträgen und Expertengesprächen oftmals den Vorzug. Auch, weil viele Redakteure in Deutschland eben denken, alte weiße Männer seien seriöser als eine junge Frau. Da spiegeln sich die gesellschaftlichen Strukturen wider.
Vor dem Gespräch hätte ich gesagt, was du machst, klingt nach einem Traumjob. Jetzt würde ich sagen, es ist nur einer, wenn man es schafft, den zahlreichen Hindernissen auszuweichen. Du kennst beide Seiten: Wie viel von deinem Idealismus hast du nach fünf Jahren freier Korrespondenz in Chile verloren?
Ich hatte in der Uni sicherlich noch sehr viel mehr Idealismus, da wollte ich aber auch noch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeiten und niemals als freie Journalistin. Das habe ich irgendwann zum Glück über Bord geworfen (lacht). Am Anfang ist es als freie Journalistin schwer. Ich habe viele, viele Absagen bekommen für die Themen, die ich angeboten habe. Aber mit der Zeit kristallisieren sich die Beziehungen heraus, die einen fruchtbaren Boden bilden. Ich arbeite nur noch mit Redakteuren und Redakteurinnen zusammen, zu denen ich eine gute Beziehung habe. Daraus entstehen dann auch gute Beiträge, Artikel und Reportagen. Bei unfreundlichen und arroganten Redakteuren habe ich eine Null-Toleranz-Strategie. Mittlerweile kann ich mir das leisten.