Wenn alles so gelaufen wäre, wie ich mir das vorgestellt habe, dann würde es diesen Text nicht geben. Dann würde ich jetzt mit meinem Hollandrad durch die Blumenfelder vor den Toren von Utrecht fahren. Mehr als 20.000 Studierende aus Deutschland wollten aktuell nicht in Deutschland sein, sondern ihr Erasmus im Ausland verbringen. So wie ich. Für fünf Monate sollte es für mich nach Utrecht in die Niederlande gehen. Aus fünf Monaten wurden sechs Wochen, bevor ich meine Zelte dort vorerst abbrach und nach Hause zurückkehrte. Ein Sammelbericht von IfP-Studierenden, deren Auslandsstudium sehr unterschiedlich und doch immer anders geplant verläuft.
In unserer Auslandssemester-WhatsApp-Gruppe, die ursprünglich dazu gedacht war, Erfahrungen und Erasmus-Tipps auszutauschen und mögliche Besuche in den verschiedenen Metropolen zu planen, ging es nach kurzer Zeit nur noch um Fragen wie „Wie ist die Situation gerade bei euch?“ und „Seid ihr schon wieder zu Hause?“.
Utrecht, Niederlande:
In den Niederlanden setzte die Pandemie später ein als hierzulande. Während ich täglich die Nachrichten aus Deutschland und die Entwicklungen sorgenvoll beobachtete, ging es in unseren Kursen noch darum, Diskussionen über die Markenstrategie der Biermarke Corona zu führen und auszuarbeiten, ob die Namensgleichheit mit dem Virus etwas Schlechtes für die Getränkemarke war – alles mit einem zwinkernden Auge. „There is no such thing as bad PR!“, waren wir uns einig.
Als die Lage im März immer ernster wurde, die Uni auf unbestimmte Zeit ihre Türen schloss, Geschäfte, Cafés und Restaurants vorübergehend dicht machten, entschloss ich mich erst einmal nach Hause zu fahren, „Aber nach Ostern komme ich ganz bestimmt wieder hierher zurück!“, versicherte ich meinen neu gewonnen Freunden in den Niederlanden. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir nicht vorstellen, wie rasant sich die Situation ändern und wie ernst die Lage sich entwickeln würde. Zwei Monate später bin ich immer noch zu Hause – alles läuft online ab, Kurse, Klausuren, Präsentationen. Das funktioniert erstaunlich gut, aber das Gefühl des Auslandssemesters ist dahin. All die Pläne, die wir uns für die Frühlings- und Sommermonate gemacht hatten; bei der Parade zum Königstag in Amsterdam mitfeiern, nach Den Haag ans Meer fahren oder Tulpenfelder in Haarlem besichtigen – all das kommt einem jetzt utopisch vor.
München, Deutschland:
Noch einschneidender sah das „Abenteuer Auslandssemester“ für Dani aus. Die Mainzer Masterstudentin wollte ihr Erasmus-Semester in Mailand verbringen. Wie die Zeitform verrät, kam es gar nicht erst dazu. Da das Studienjahr in Mailand aus Trimestern besteht, sollte es für Dani erst im April in die italienische Metropole gehen. Das WG-Zimmer in Mainz untervermietet, den Mietvertrag für ein Zimmer in Mailand unterschrieben und die Anreise, inklusive kurzem Zwischenstopp bei der Familie in der Nähe von München, geplant. Doch dann die bittere Erkenntnis: Nach Tagen und Wochen des Bangens und Abwägens, dann der Anruf mit der Ansage, dass ein Auslandssemester in Italien momentan nicht durchführbar sei. „Ich habe den Anruf bekommen, als ich gerade in der Bibliothek saß und an einer Hausarbeit geschrieben habe. Mir war einfach nur nach Weinen zumute“, erzählt sie. Über einen Plan B hatte sich Dani vorsichtshalber schon Gedanken gemacht und sich nach Praktika umgesehen. Doch auch die Suche nach Alternativen gestaltete sich schwierig: eine vielversprechende Praktikumsstelle bei einer PR-Agentur – spezialisiert auf die Tourismusbranche – wurde im letzten Moment abgesagt. Nach dem Online-Vorstellungsgespräch hätte die Agentur ihr gerne den Praktikumsplatz angeboten, doch aufgrund von Corona war auch das nicht möglich. Da Dani ihr Zimmer in Mainz bis Juli untervermietet hat, ist sie fürs Erste in ihr Kinderzimmer zurückgekehrt. Von dort aus belegt sie zwei Kurse an der Uni Mainz und geht online ihrer Werkstudententätigkeit nach. Aus dem geplanten kurzen Zwischenstopp auf dem Weg nach Mailand wurde ein ausgedehnter Heimatbesuch.
Seoul, Südkorea:
Anderer Kontinent, andere Welt. Nach einer Reise durch Asien wollte Matthias sein Auslandssemester in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul starten. Als der Semesterstart nach hinten verschoben wird, verlängert er seinen Urlaubstrip. Doch während seines Aufenthaltes auf den Philippinen wird es brenzlig: Die Regierung gibt bekannt, dass alle Flughäfen schließen und Matthias bleiben 30 Stunden, um von der Insel runterzukommen. Im letzten Moment ergattert er ein Ticket nach Seoul. Die Überlegungen das Auslandssemester abzubrechen und nach Deutschland zurückzukehren wurden immer stärker, doch angekommen in Seoul traf er die Entscheidung in Südkorea zu bleiben. „Cafés, Restaurants und auch Clubs sind offen und das Leben hier ist weitgehend normal und entspannt“, berichtete er. Das war Mitte März. Bis heute hat er seine Entscheidung nicht bereut und genießt sein Auslandssemester in vollen Zügen. Momentan überlegt Matthias sogar, seinen Auslandsaufenthalt um ein weiteres Semester zu verlängern und erst Weihnachten nach Hause zurückzukehren.
Krakau, Polen:
Ähnlich spektakulär wie Matthias Abreise von den Philippinen, gestaltete sich Corinnas Heimweg von Krakau nach Aachen. Drei Wochen harrte die Studentin in Krakau aus, in der Hoffnung, dass ein einigermaßen normales Auslandssemester doch noch möglich wäre. Ihre Entscheidung zurück nach Deutschland zu kehren, fällte sie, als bekannt wurde, dass alle Einreisenden in Deutschland in vierzehntägige Quarantäne müssten. Nachdem sie ihren Entschluss getroffen hatte, ging alles ganz schnell: Mit rudimentären Polnisch-Kenntnissen und der Hilfe ihrer Mentorin konnte Corinna sich die Seite der polnischen Bahn übersetzen, um Züge zurück nach Deutschland für den kommenden Tag zu kaufen. Das Gepäck für die geplanten fünf Monate in Polen packte sie schnell zusammen und um fünf Uhr morgens am nächsten Tag startete ihre Rückreise nach Deutschland. Mit dem Zug ging es von Krakau über Breslau und Dresden nach Erfurt. Ein anderthalb stündiger Fußmarsch über die Grenze nach Deutschland war auch Teil der Reiseroute. Bei 20 Grad, mit zwei Koffern, Rucksack und Wintermantel, Stiefeln, Schal und Rollkragenpullover, weil es nicht mehr in den Koffer passte. Am Erfurter Bahnhof, holte ihr Vater sie mit dem Auto ab und es ging in ihre Heimat Aachen. Während der Hinweg eine Reisezeit von zwei Stunden per Flugzeug beanspruchte, war es auf dem Rückweg das Zehnfache. Insgesamt 20 Stunden war sie unterwegs, um nach Hause zu kommen.
Mittlerweile hat sich die Lage in den meisten Ländern wieder entspannt und einige öffnen ihre Grenzen. Unsere Gespräche in der WhatsApp-Gruppe drehen sich jetzt mehr vermehrt um die Fragen „Geht ihr wieder zurück?“ und „Wenn ja, wann?“. Vielleicht gibt es für viele von uns dann doch noch einen versöhnlichen Abschluss für ein Auslandssemester, das eigentlich keins war.